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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.

25. Unbestimmter als die Vorstellung der Richtung ist
die der Entfernung der Objecte vom Sehenden oder der
absoluten Größe der Orientirungslinie, und zwar sind wir
durchweg geneigt, uns diese Größe kleiner vorzustellen, als
sie wirklich ist, wie man sich überzeugt, wenn man dieselbe
mit einem im Sehfeld befindlichen etwa senkrecht zu ihr
gelegenen Maßstabe vergleicht. Die als gleich groß vor-
gestellte Länge des Maßstabes ist dann immer erheblich
kleiner als die wirkliche Länge der Orientirungslinie; und
dieser Unterschied ist um so bedeutender, je weiter der
Blickpunkt rückt, je länger also die Orientirungslinie ist.
Die Empfindungscomponenten, welche diese Vorstellung der
Größe der Orientirungslinie ergeben, können nun allein die-
jenigen Bestandtheile der an die Stellungen der beiden
Augen gebundenen inneren Tastempfindungen sein, die spe-
ciell mit der Convergenzstellung der Blicklinien verbunden
sind und daher auch ein gewisses Maß für die absolute
Größe dieser Convergenz enthalten. In der That beobachtet
man beim Wechsel der Convergenzstellungen Empfindungen,
die beim Uebergang zu stärkerer Convergenz hauptsächlich
am innern, beim Uebergang zu schwächerer Convergenz am
äußern Augenwinkel ihren Sitz haben. Durch die Summe
der einer gegebenen Convergenzstellung entsprechenden Em-
pfindungen ist aber dieselbe gegenüber allen andern Con-
vergenzstellungen vollständig charakterisirt.

26. Hiernach kann sich die Vorstellung einer bestimmten
absoluten Größe der Orientirungslinie erst auf Grund von
Erfahrungseinflüssen entwickeln, bei denen neben den
directen Empfindungselementen noch mannigfache Associa-
tionen eine Rolle spielen. Daraus erklärt es sich, dass jene
Vorstellung immer unbestimmt bleibt, und dass sie durch
andere Bestandtheile der Gesichtswahrnehmungen, namentlich
durch die Größe der Netzhautbilder bekannter Objecte, bald

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.

25. Unbestimmter als die Vorstellung der Richtung ist
die der Entfernung der Objecte vom Sehenden oder der
absoluten Größe der Orientirungslinie, und zwar sind wir
durchweg geneigt, uns diese Größe kleiner vorzustellen, als
sie wirklich ist, wie man sich überzeugt, wenn man dieselbe
mit einem im Sehfeld befindlichen etwa senkrecht zu ihr
gelegenen Maßstabe vergleicht. Die als gleich groß vor-
gestellte Länge des Maßstabes ist dann immer erheblich
kleiner als die wirkliche Länge der Orientirungslinie; und
dieser Unterschied ist um so bedeutender, je weiter der
Blickpunkt rückt, je länger also die Orientirungslinie ist.
Die Empfindungscomponenten, welche diese Vorstellung der
Größe der Orientirungslinie ergeben, können nun allein die-
jenigen Bestandtheile der an die Stellungen der beiden
Augen gebundenen inneren Tastempfindungen sein, die spe-
ciell mit der Convergenzstellung der Blicklinien verbunden
sind und daher auch ein gewisses Maß für die absolute
Größe dieser Convergenz enthalten. In der That beobachtet
man beim Wechsel der Convergenzstellungen Empfindungen,
die beim Uebergang zu stärkerer Convergenz hauptsächlich
am innern, beim Uebergang zu schwächerer Convergenz am
äußern Augenwinkel ihren Sitz haben. Durch die Summe
der einer gegebenen Convergenzstellung entsprechenden Em-
pfindungen ist aber dieselbe gegenüber allen andern Con-
vergenzstellungen vollständig charakterisirt.

26. Hiernach kann sich die Vorstellung einer bestimmten
absoluten Größe der Orientirungslinie erst auf Grund von
Erfahrungseinflüssen entwickeln, bei denen neben den
directen Empfindungselementen noch mannigfache Associa-
tionen eine Rolle spielen. Daraus erklärt es sich, dass jene
Vorstellung immer unbestimmt bleibt, und dass sie durch
andere Bestandtheile der Gesichtswahrnehmungen, namentlich
durch die Größe der Netzhautbilder bekannter Objecte, bald

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[155/0171] § 10. Die räumlichen Vorstellungen. 25. Unbestimmter als die Vorstellung der Richtung ist die der Entfernung der Objecte vom Sehenden oder der absoluten Größe der Orientirungslinie, und zwar sind wir durchweg geneigt, uns diese Größe kleiner vorzustellen, als sie wirklich ist, wie man sich überzeugt, wenn man dieselbe mit einem im Sehfeld befindlichen etwa senkrecht zu ihr gelegenen Maßstabe vergleicht. Die als gleich groß vor- gestellte Länge des Maßstabes ist dann immer erheblich kleiner als die wirkliche Länge der Orientirungslinie; und dieser Unterschied ist um so bedeutender, je weiter der Blickpunkt rückt, je länger also die Orientirungslinie ist. Die Empfindungscomponenten, welche diese Vorstellung der Größe der Orientirungslinie ergeben, können nun allein die- jenigen Bestandtheile der an die Stellungen der beiden Augen gebundenen inneren Tastempfindungen sein, die spe- ciell mit der Convergenzstellung der Blicklinien verbunden sind und daher auch ein gewisses Maß für die absolute Größe dieser Convergenz enthalten. In der That beobachtet man beim Wechsel der Convergenzstellungen Empfindungen, die beim Uebergang zu stärkerer Convergenz hauptsächlich am innern, beim Uebergang zu schwächerer Convergenz am äußern Augenwinkel ihren Sitz haben. Durch die Summe der einer gegebenen Convergenzstellung entsprechenden Em- pfindungen ist aber dieselbe gegenüber allen andern Con- vergenzstellungen vollständig charakterisirt. 26. Hiernach kann sich die Vorstellung einer bestimmten absoluten Größe der Orientirungslinie erst auf Grund von Erfahrungseinflüssen entwickeln, bei denen neben den directen Empfindungselementen noch mannigfache Associa- tionen eine Rolle spielen. Daraus erklärt es sich, dass jene Vorstellung immer unbestimmt bleibt, und dass sie durch andere Bestandtheile der Gesichtswahrnehmungen, namentlich durch die Größe der Netzhautbilder bekannter Objecte, bald

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/171>, abgerufen am 24.11.2024.