1. Zwei Begriffsbestimmungen der Psychologie sind in der Geschichte dieser Wissenschaft die vorherrschenden. Nach der einen ist die Psychologie "Wissenschaft von der Seele": die psychischen Vorgänge werden als Erscheinungen betrachtet, aus denen auf das Wesen einer ihnen zu Grunde liegenden metaphysischen Seelensubstanz zurückzuschließen sei. Nach der andern ist die Psychologie "Wissenschaft der innern Erfahrung". Nach ihr gehören die psychischen Vor- gänge einer besondern Art von Erfahrung an, die ohne weiteres daran zu unterscheiden sei, dass ihre Objecte der "Selbstbeobachtung" oder, wie man diese auch im Gegensatz zur Wahrnehmung durch die äußeren Sinne nennt, dem "inneren Sinne" gegeben seien.
Keine dieser Begriffsbestimmungen genügt jedoch dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft. Die erste, die meta- physische Definition entspricht einem Zustand, der für die Psychologie länger als für andere Gebiete bestanden hat, der aber auch für sie endgültig vorüber ist, nachdem sie sich zu einer mit eigenthümlichen Methoden arbeitenden empirischen Disciplin entwickelt hat, und seitdem die "Geisteswissenschaften" als ein großes den Naturwissen- schaften gegenüberstehendes Wissenschaftsgebiet anerkannt
Wundt, Psychologie. 1
Einleitung.
§ 1. Aufgabe der Psychologie.
1. Zwei Begriffsbestimmungen der Psychologie sind in der Geschichte dieser Wissenschaft die vorherrschenden. Nach der einen ist die Psychologie »Wissenschaft von der Seele»: die psychischen Vorgänge werden als Erscheinungen betrachtet, aus denen auf das Wesen einer ihnen zu Grunde liegenden metaphysischen Seelensubstanz zurückzuschließen sei. Nach der andern ist die Psychologie »Wissenschaft der innern Erfahrung«. Nach ihr gehören die psychischen Vor- gänge einer besondern Art von Erfahrung an, die ohne weiteres daran zu unterscheiden sei, dass ihre Objecte der »Selbstbeobachtung« oder, wie man diese auch im Gegensatz zur Wahrnehmung durch die äußeren Sinne nennt, dem »inneren Sinne« gegeben seien.
Keine dieser Begriffsbestimmungen genügt jedoch dem heutigen Standpunkt der Wissenschaft. Die erste, die meta- physische Definition entspricht einem Zustand, der für die Psychologie länger als für andere Gebiete bestanden hat, der aber auch für sie endgültig vorüber ist, nachdem sie sich zu einer mit eigenthümlichen Methoden arbeitenden empirischen Disciplin entwickelt hat, und seitdem die »Geisteswissenschaften« als ein großes den Naturwissen- schaften gegenüberstehendes Wissenschaftsgebiet anerkannt
Wundt, Psychologie. 1
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[[1]/0017]
Einleitung.
§ 1. Aufgabe der Psychologie.
1. Zwei Begriffsbestimmungen der Psychologie sind in
der Geschichte dieser Wissenschaft die vorherrschenden.
Nach der einen ist die Psychologie »Wissenschaft von der
Seele»: die psychischen Vorgänge werden als Erscheinungen
betrachtet, aus denen auf das Wesen einer ihnen zu Grunde
liegenden metaphysischen Seelensubstanz zurückzuschließen
sei. Nach der andern ist die Psychologie »Wissenschaft der
innern Erfahrung«. Nach ihr gehören die psychischen Vor-
gänge einer besondern Art von Erfahrung an, die ohne
weiteres daran zu unterscheiden sei, dass ihre Objecte der
»Selbstbeobachtung« oder, wie man diese auch im Gegensatz
zur Wahrnehmung durch die äußeren Sinne nennt, dem
»inneren Sinne« gegeben seien.
Keine dieser Begriffsbestimmungen genügt jedoch dem
heutigen Standpunkt der Wissenschaft. Die erste, die meta-
physische Definition entspricht einem Zustand, der für die
Psychologie länger als für andere Gebiete bestanden hat,
der aber auch für sie endgültig vorüber ist, nachdem sie
sich zu einer mit eigenthümlichen Methoden arbeitenden
empirischen Disciplin entwickelt hat, und seitdem die
»Geisteswissenschaften« als ein großes den Naturwissen-
schaften gegenüberstehendes Wissenschaftsgebiet anerkannt
Wundt, Psychologie. 1
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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/17>, abgerufen am 21.11.2024.
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