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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
Elemente enthält: auf den der Eintrittsstelle des Sehnerven
entsprechenden blinden Fleck. Objecte, deren Bilder auf
den blinden Fleck fallen, werden nicht gesehen. Da der-
selbe, 15° nach innen vom Blickpunkt gelegen, eine Größe
von etwa 6° hat, so können auf ihm Bilder von ansehnlicher
Größe, z. B. ein in etwa 6 Fuß Entfernung gelegenes mensch-
liches Angesicht, vollständig verschwinden. Aber sobald
rechts und links oder oben und unten vom blinden Fleck
Punkte im Sehfeld auftauchen, so geben wir denselben die
nämliche Entfernung von einander wie in irgend einer
andern, nicht durch den blinden Fleck unterbrochenen Re-
gion des Sehfeldes. Das nämliche beobachtet man, wenn
abnormer Weise eine Stelle der Netzhaut in Folge von Krank-
heitsprocessen blind geworden ist. Die hierdurch entstehende
Lücke im Sehfeld macht sich immer nur darin geltend, dass
die in sie fallenden Bilder nicht gesehen werden, niemals
aber darin, dass die jenseits der Grenze der blinden Stelle
gelegenen Objecte Aenderungen ihrer Localisation erfahren.1)

22. Alle diese Erscheinungen lehren, dass die Schärfe
des Sehens
und die Auffassung von Richtungen und
Strecken im Sehfeld
zwei verschiedene Functionen sind,
die auf verschiedene Bedingungen zurückführen: die erste
auf die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der
Netzhautelemente; die zweite auf die Bewegungen
des Auges
. Hieraus ergibt sich aber zugleich, dass die
räumlichen Vorstellungen des Gesichtssinns ebensowenig wie

1) Hiermit steht im Zusammenhang, dass der blinde Fleck auch
in Bezug auf den Empfindungsinhalt nicht als eine Lücke im Seh-
felde, sondern in der allgemeinen Helligkeits- und Farbenqualität
des Sehfeldes erscheint, also z. B. weiß, wenn wir auf eine weiße,
schwarz, wenn wir auf eine schwarze Fläche blicken, u. s. w. Da
diese Ausfüllung des blinden Fleckes selbstverständlich nur durch
reproducirte Empfindungen möglich ist, so ist dieselbe übrigens auf
die später zu betrachtenden Associationserscheinungen (§ 16) zurück-
zuführen.

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
Elemente enthält: auf den der Eintrittsstelle des Sehnerven
entsprechenden blinden Fleck. Objecte, deren Bilder auf
den blinden Fleck fallen, werden nicht gesehen. Da der-
selbe, 15° nach innen vom Blickpunkt gelegen, eine Größe
von etwa 6° hat, so können auf ihm Bilder von ansehnlicher
Größe, z. B. ein in etwa 6 Fuß Entfernung gelegenes mensch-
liches Angesicht, vollständig verschwinden. Aber sobald
rechts und links oder oben und unten vom blinden Fleck
Punkte im Sehfeld auftauchen, so geben wir denselben die
nämliche Entfernung von einander wie in irgend einer
andern, nicht durch den blinden Fleck unterbrochenen Re-
gion des Sehfeldes. Das nämliche beobachtet man, wenn
abnormer Weise eine Stelle der Netzhaut in Folge von Krank-
heitsprocessen blind geworden ist. Die hierdurch entstehende
Lücke im Sehfeld macht sich immer nur darin geltend, dass
die in sie fallenden Bilder nicht gesehen werden, niemals
aber darin, dass die jenseits der Grenze der blinden Stelle
gelegenen Objecte Aenderungen ihrer Localisation erfahren.1)

22. Alle diese Erscheinungen lehren, dass die Schärfe
des Sehens
und die Auffassung von Richtungen und
Strecken im Sehfeld
zwei verschiedene Functionen sind,
die auf verschiedene Bedingungen zurückführen: die erste
auf die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der
Netzhautelemente; die zweite auf die Bewegungen
des Auges
. Hieraus ergibt sich aber zugleich, dass die
räumlichen Vorstellungen des Gesichtssinns ebensowenig wie

1) Hiermit steht im Zusammenhang, dass der blinde Fleck auch
in Bezug auf den Empfindungsinhalt nicht als eine Lücke im Seh-
felde, sondern in der allgemeinen Helligkeits- und Farbenqualität
des Sehfeldes erscheint, also z. B. weiß, wenn wir auf eine weiße,
schwarz, wenn wir auf eine schwarze Fläche blicken, u. s. w. Da
diese Ausfüllung des blinden Fleckes selbstverständlich nur durch
reproducirte Empfindungen möglich ist, so ist dieselbe übrigens auf
die später zu betrachtenden Associationserscheinungen (§ 16) zurück-
zuführen.
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[149/0165] § 10. Die räumlichen Vorstellungen. Elemente enthält: auf den der Eintrittsstelle des Sehnerven entsprechenden blinden Fleck. Objecte, deren Bilder auf den blinden Fleck fallen, werden nicht gesehen. Da der- selbe, 15° nach innen vom Blickpunkt gelegen, eine Größe von etwa 6° hat, so können auf ihm Bilder von ansehnlicher Größe, z. B. ein in etwa 6 Fuß Entfernung gelegenes mensch- liches Angesicht, vollständig verschwinden. Aber sobald rechts und links oder oben und unten vom blinden Fleck Punkte im Sehfeld auftauchen, so geben wir denselben die nämliche Entfernung von einander wie in irgend einer andern, nicht durch den blinden Fleck unterbrochenen Re- gion des Sehfeldes. Das nämliche beobachtet man, wenn abnormer Weise eine Stelle der Netzhaut in Folge von Krank- heitsprocessen blind geworden ist. Die hierdurch entstehende Lücke im Sehfeld macht sich immer nur darin geltend, dass die in sie fallenden Bilder nicht gesehen werden, niemals aber darin, dass die jenseits der Grenze der blinden Stelle gelegenen Objecte Aenderungen ihrer Localisation erfahren. 1) 22. Alle diese Erscheinungen lehren, dass die Schärfe des Sehens und die Auffassung von Richtungen und Strecken im Sehfeld zwei verschiedene Functionen sind, die auf verschiedene Bedingungen zurückführen: die erste auf die Dichtigkeit der Aneinanderlagerung der Netzhautelemente; die zweite auf die Bewegungen des Auges. Hieraus ergibt sich aber zugleich, dass die räumlichen Vorstellungen des Gesichtssinns ebensowenig wie 1) Hiermit steht im Zusammenhang, dass der blinde Fleck auch in Bezug auf den Empfindungsinhalt nicht als eine Lücke im Seh- felde, sondern in der allgemeinen Helligkeits- und Farbenqualität des Sehfeldes erscheint, also z. B. weiß, wenn wir auf eine weiße, schwarz, wenn wir auf eine schwarze Fläche blicken, u. s. w. Da diese Ausfüllung des blinden Fleckes selbstverständlich nur durch reproducirte Empfindungen möglich ist, so ist dieselbe übrigens auf die später zu betrachtenden Associationserscheinungen (§ 16) zurück- zuführen.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/165>, abgerufen am 24.11.2024.