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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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I. Die psychischen Elemente.

In diesem Sinne lassen sich nun drei Hauptrichtungen
feststellen: wir wollen sie die Richtungen der Lust und
Unlust, der erregenden und beruhigenden (excitiren-
den und deprimirenden) und endlich der spannenden und
lösenden Gefühle nennen. Ein individuelles Gefühl kann
entweder alle diese Richtungen oder nur zwei derselben er-
kennen lassen, oder es kann auch nur einer einzigen unter
ihnen angehören. Dieser letzteren Möglichkeit verdanken
wir es allein, dass die genannten Richtungen überhaupt
unterschieden werden können. Die meist zu beobachtende
Verbindung verschiedener Gefühlsrichtungen aber macht es,
neben dem oben (S. 93) erwähnten Einflusse des Ueberein-
andergreifens mannigfaltiger Gefühlswirkungen, begreiflich,
dass die allgemeine Natur der Gefühle zwar eine Indifferenz-
zone fordert, dass wir uns aber gleichwohl vielleicht niemals
in einem völlig gefühlsfreien Zustande befinden.

8. Als Beispiele reiner Lust- und Unlustformen können
wohl die an die Empfindungen des allgemeinen Sinnes sowie
die an Geruchs- und Geschmackseindrücke gebundenen Ge-
fühle angesehen werden. Bei einer Schmerzempfindung z. B.
nehmen wir ein Unlustgefühl in der Regel ohne jede Bei-
mischung einer der andern Gefühlsformen wahr. Erregende
und niederdrückende Gefühle lassen sich in Verbindung mit
reinen Empfindungen besonders bei Farben- und Klang-
eindrücken beobachten: so wirkt z. B. die rothe Farbe
erregend, die blaue beruhigend. Spannende und lösende
Gefühle endlich sind durchweg an den zeitlichen Verlauf der
Vorgänge gebunden: so ist z. B. bei der Erwartung eines
Sinneseindrucks ein Gefühl der Spannung, bei dem Eintritt
eines erwarteten Ereignisses ein Gefühl der Lösung zu be-
merken. Dabei kann allerdings sowohl die Erwartung wie
ihre Erfüllung zugleich vom Gefühl der Erregung, oder sie
können auch je nach besonderen Bedingungen von Lust-

I. Die psychischen Elemente.

In diesem Sinne lassen sich nun drei Hauptrichtungen
feststellen: wir wollen sie die Richtungen der Lust und
Unlust, der erregenden und beruhigenden (excitiren-
den und deprimirenden) und endlich der spannenden und
lösenden Gefühle nennen. Ein individuelles Gefühl kann
entweder alle diese Richtungen oder nur zwei derselben er-
kennen lassen, oder es kann auch nur einer einzigen unter
ihnen angehören. Dieser letzteren Möglichkeit verdanken
wir es allein, dass die genannten Richtungen überhaupt
unterschieden werden können. Die meist zu beobachtende
Verbindung verschiedener Gefühlsrichtungen aber macht es,
neben dem oben (S. 93) erwähnten Einflusse des Ueberein-
andergreifens mannigfaltiger Gefühlswirkungen, begreiflich,
dass die allgemeine Natur der Gefühle zwar eine Indifferenz-
zone fordert, dass wir uns aber gleichwohl vielleicht niemals
in einem völlig gefühlsfreien Zustande befinden.

8. Als Beispiele reiner Lust- und Unlustformen können
wohl die an die Empfindungen des allgemeinen Sinnes sowie
die an Geruchs- und Geschmackseindrücke gebundenen Ge-
fühle angesehen werden. Bei einer Schmerzempfindung z. B.
nehmen wir ein Unlustgefühl in der Regel ohne jede Bei-
mischung einer der andern Gefühlsformen wahr. Erregende
und niederdrückende Gefühle lassen sich in Verbindung mit
reinen Empfindungen besonders bei Farben- und Klang-
eindrücken beobachten: so wirkt z. B. die rothe Farbe
erregend, die blaue beruhigend. Spannende und lösende
Gefühle endlich sind durchweg an den zeitlichen Verlauf der
Vorgänge gebunden: so ist z. B. bei der Erwartung eines
Sinneseindrucks ein Gefühl der Spannung, bei dem Eintritt
eines erwarteten Ereignisses ein Gefühl der Lösung zu be-
merken. Dabei kann allerdings sowohl die Erwartung wie
ihre Erfüllung zugleich vom Gefühl der Erregung, oder sie
können auch je nach besonderen Bedingungen von Lust-

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[98/0114] I. Die psychischen Elemente. In diesem Sinne lassen sich nun drei Hauptrichtungen feststellen: wir wollen sie die Richtungen der Lust und Unlust, der erregenden und beruhigenden (excitiren- den und deprimirenden) und endlich der spannenden und lösenden Gefühle nennen. Ein individuelles Gefühl kann entweder alle diese Richtungen oder nur zwei derselben er- kennen lassen, oder es kann auch nur einer einzigen unter ihnen angehören. Dieser letzteren Möglichkeit verdanken wir es allein, dass die genannten Richtungen überhaupt unterschieden werden können. Die meist zu beobachtende Verbindung verschiedener Gefühlsrichtungen aber macht es, neben dem oben (S. 93) erwähnten Einflusse des Ueberein- andergreifens mannigfaltiger Gefühlswirkungen, begreiflich, dass die allgemeine Natur der Gefühle zwar eine Indifferenz- zone fordert, dass wir uns aber gleichwohl vielleicht niemals in einem völlig gefühlsfreien Zustande befinden. 8. Als Beispiele reiner Lust- und Unlustformen können wohl die an die Empfindungen des allgemeinen Sinnes sowie die an Geruchs- und Geschmackseindrücke gebundenen Ge- fühle angesehen werden. Bei einer Schmerzempfindung z. B. nehmen wir ein Unlustgefühl in der Regel ohne jede Bei- mischung einer der andern Gefühlsformen wahr. Erregende und niederdrückende Gefühle lassen sich in Verbindung mit reinen Empfindungen besonders bei Farben- und Klang- eindrücken beobachten: so wirkt z. B. die rothe Farbe erregend, die blaue beruhigend. Spannende und lösende Gefühle endlich sind durchweg an den zeitlichen Verlauf der Vorgänge gebunden: so ist z. B. bei der Erwartung eines Sinneseindrucks ein Gefühl der Spannung, bei dem Eintritt eines erwarteten Ereignisses ein Gefühl der Lösung zu be- merken. Dabei kann allerdings sowohl die Erwartung wie ihre Erfüllung zugleich vom Gefühl der Erregung, oder sie können auch je nach besonderen Bedingungen von Lust-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/114>, abgerufen am 22.11.2024.