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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
ganze Folge der photochemischen Farbenzersetzungen einen Kreis-
process
bildet, in dem sich die Zersetzungsproducte je zweier
relativ entferntester Stufen wechselseitig neutralisiren.1)

An der lebenden Netzhaut sind verschiedene Veränderungen
in Folge der Lichteinwirkung beobachtet, welche die Annahme
eines photochemischen Vorgangs unterstützen: so der allmähliche
Uebergang eines in der gedunkelten Netzhaut vorhandenen rothen
Farbstoffs in den farblosen Zustand (Bleichung des Sehpurpurs),
mikroskopische Wanderungen des zwischen den empfindenden
Elementen, den Stäbchen und Zapfen, enthaltenen pigmenthaltigen
Protoplasmas, endlich Formänderungen der Stäbchen und Zapfen
selbst. Versuche, diese Erscheinungen irgendwie zu einer phy-
siologischen Theorie der Lichtreizung zu verwerthen, sind aber
entschieden verfrüht. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass
mit den Formunterschieden der beiden Elemente, der Stäbchen
und Zapfen, auch Functionsunterschiede zusammenhängen. Da
nämlich die Mitte der Netzhaut, die Region des directen Sehens,
beim Menschen nur Zapfen enthält, während auf den Seitentheilen
die Stäbchen überwiegen, und da ferner in der Mitte (die übrigens
des Sehpurpur entbehrt) die Farbenunterscheidung viel voll-
kommener ist als in den seitlichen Regionen, während letztere
für Helligkeiten empfindlicher sind, so liegt es nahe zu ver-
muthen, dass diese Unterschiede mit den photochemischen Eigen-
schaften der Zapfen und Stäbchen zusammenhängen. Doch fehlt
auch hier noch der nähere Nachweis.

§ 7. Die einfachen Gefühle.

1. Einfache Gefühle können, wie in § 5 erwähnt wurde,
in ungleich mannigfaltigerer Weise entstehen als einfache

1) Die überdies von den Anhängern der vier Grundfarben ge-
machte Annahme, die zwei Gegenfarben verhielten sich hierbei voll-
kommen wie Hell und Dunkel bei der farblosen Erregung, die eine
der Gegenfarben beruhe also auf einer photochemischen Zersetzung
(Dissimilation), die andere auf einer Restitution (Assimilation), ist
eine Analogie, die mit den thatsächlichen Verhältnissen im Wider-
spruch steht. Das Resultat der Mischung der Complementärfarben
ist subjectiv eine Aufhebung der Farbenempfindung, die Mischung
von Schwarz und Weiß dagegen erzeugt eine mittlere Empfindung.

§ 6. Die reinen Empfindungen.
ganze Folge der photochemischen Farbenzersetzungen einen Kreis-
process
bildet, in dem sich die Zersetzungsproducte je zweier
relativ entferntester Stufen wechselseitig neutralisiren.1)

An der lebenden Netzhaut sind verschiedene Veränderungen
in Folge der Lichteinwirkung beobachtet, welche die Annahme
eines photochemischen Vorgangs unterstützen: so der allmähliche
Uebergang eines in der gedunkelten Netzhaut vorhandenen rothen
Farbstoffs in den farblosen Zustand (Bleichung des Sehpurpurs),
mikroskopische Wanderungen des zwischen den empfindenden
Elementen, den Stäbchen und Zapfen, enthaltenen pigmenthaltigen
Protoplasmas, endlich Formänderungen der Stäbchen und Zapfen
selbst. Versuche, diese Erscheinungen irgendwie zu einer phy-
siologischen Theorie der Lichtreizung zu verwerthen, sind aber
entschieden verfrüht. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass
mit den Formunterschieden der beiden Elemente, der Stäbchen
und Zapfen, auch Functionsunterschiede zusammenhängen. Da
nämlich die Mitte der Netzhaut, die Region des directen Sehens,
beim Menschen nur Zapfen enthält, während auf den Seitentheilen
die Stäbchen überwiegen, und da ferner in der Mitte (die übrigens
des Sehpurpur entbehrt) die Farbenunterscheidung viel voll-
kommener ist als in den seitlichen Regionen, während letztere
für Helligkeiten empfindlicher sind, so liegt es nahe zu ver-
muthen, dass diese Unterschiede mit den photochemischen Eigen-
schaften der Zapfen und Stäbchen zusammenhängen. Doch fehlt
auch hier noch der nähere Nachweis.

§ 7. Die einfachen Gefühle.

1. Einfache Gefühle können, wie in § 5 erwähnt wurde,
in ungleich mannigfaltigerer Weise entstehen als einfache

1) Die überdies von den Anhängern der vier Grundfarben ge-
machte Annahme, die zwei Gegenfarben verhielten sich hierbei voll-
kommen wie Hell und Dunkel bei der farblosen Erregung, die eine
der Gegenfarben beruhe also auf einer photochemischen Zersetzung
(Dissimilation), die andere auf einer Restitution (Assimilation), ist
eine Analogie, die mit den thatsächlichen Verhältnissen im Wider-
spruch steht. Das Resultat der Mischung der Complementärfarben
ist subjectiv eine Aufhebung der Farbenempfindung, die Mischung
von Schwarz und Weiß dagegen erzeugt eine mittlere Empfindung.
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[87/0103] § 6. Die reinen Empfindungen. ganze Folge der photochemischen Farbenzersetzungen einen Kreis- process bildet, in dem sich die Zersetzungsproducte je zweier relativ entferntester Stufen wechselseitig neutralisiren. 1) An der lebenden Netzhaut sind verschiedene Veränderungen in Folge der Lichteinwirkung beobachtet, welche die Annahme eines photochemischen Vorgangs unterstützen: so der allmähliche Uebergang eines in der gedunkelten Netzhaut vorhandenen rothen Farbstoffs in den farblosen Zustand (Bleichung des Sehpurpurs), mikroskopische Wanderungen des zwischen den empfindenden Elementen, den Stäbchen und Zapfen, enthaltenen pigmenthaltigen Protoplasmas, endlich Formänderungen der Stäbchen und Zapfen selbst. Versuche, diese Erscheinungen irgendwie zu einer phy- siologischen Theorie der Lichtreizung zu verwerthen, sind aber entschieden verfrüht. Am wahrscheinlichsten ist es noch, dass mit den Formunterschieden der beiden Elemente, der Stäbchen und Zapfen, auch Functionsunterschiede zusammenhängen. Da nämlich die Mitte der Netzhaut, die Region des directen Sehens, beim Menschen nur Zapfen enthält, während auf den Seitentheilen die Stäbchen überwiegen, und da ferner in der Mitte (die übrigens des Sehpurpur entbehrt) die Farbenunterscheidung viel voll- kommener ist als in den seitlichen Regionen, während letztere für Helligkeiten empfindlicher sind, so liegt es nahe zu ver- muthen, dass diese Unterschiede mit den photochemischen Eigen- schaften der Zapfen und Stäbchen zusammenhängen. Doch fehlt auch hier noch der nähere Nachweis. § 7. Die einfachen Gefühle. 1. Einfache Gefühle können, wie in § 5 erwähnt wurde, in ungleich mannigfaltigerer Weise entstehen als einfache 1) Die überdies von den Anhängern der vier Grundfarben ge- machte Annahme, die zwei Gegenfarben verhielten sich hierbei voll- kommen wie Hell und Dunkel bei der farblosen Erregung, die eine der Gegenfarben beruhe also auf einer photochemischen Zersetzung (Dissimilation), die andere auf einer Restitution (Assimilation), ist eine Analogie, die mit den thatsächlichen Verhältnissen im Wider- spruch steht. Das Resultat der Mischung der Complementärfarben ist subjectiv eine Aufhebung der Farbenempfindung, die Mischung von Schwarz und Weiß dagegen erzeugt eine mittlere Empfindung.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/103>, abgerufen am 22.11.2024.