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Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

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ihre leisesten Seufzer zu horchen; wo der Hei-
de
den gekreuzigten Erlöser an keinem Merk-
mal, als vielleicht an seiner stillen Geduld und
seiner Großmuth, von den andern Gekreuzigten
unterschied; und der Jude, von den Vorur-
theilen seiner Obrigkeit angesteckt, ihn mit Ver-
achtung oder Haß betrachtete: bei dem Gedrän-
ge und Geräusche der umstehenden Menge; --
überzieht sich, jedem Zuschauer unerwartet, der
Himmel mit schwarzen Wolken, durch die kein
Strahl der Sonne dringt, und dunkle Schatten
der Nacht verbreiten sich rings umher. Wer
konnte sich doch erwähren, in dieser furchtbaren
Erscheinung den Herrn der Natur zu erkennen?
Das lärmende Getöse verwandelt sich in eine
furchtbare Stille; schweigend hängt auch Jesus
Christus am Creuz. Die finstern Wolken ver-
ziehn sich wieder, und das Licht der Sonne bricht
durch; aber nun verbreitet sich die Finsterniß
des Todes um den leidenden Erlöser, das Licht
seines Lebens verlischt, er ruft: "es ist voll-
&q;bracht! in deine Hände befehle ich, Va-
&q;ter, meinen Geist:"
neigt sein Haupt, und
stirbt. -- Nach so wenigen Stunden am Creuz,
wo andre Gemarterte Tage lang hiengen?
Wie schnell und unvermuthet, in den Augen
der Umstehenden! --

Es



ihre leiſeſten Seufzer zu horchen; wo der Hei-
de
den gekreuzigten Erlöſer an keinem Merk-
mal, als vielleicht an ſeiner ſtillen Geduld und
ſeiner Großmuth, von den andern Gekreuzigten
unterſchied; und der Jude, von den Vorur-
theilen ſeiner Obrigkeit angeſteckt, ihn mit Ver-
achtung oder Haß betrachtete: bei dem Gedrän-
ge und Geräuſche der umſtehenden Menge; —
überzieht ſich, jedem Zuſchauer unerwartet, der
Himmel mit ſchwarzen Wolken, durch die kein
Strahl der Sonne dringt, und dunkle Schatten
der Nacht verbreiten ſich rings umher. Wer
konnte ſich doch erwähren, in dieſer furchtbaren
Erſcheinung den Herrn der Natur zu erkennen?
Das lärmende Getöſe verwandelt ſich in eine
furchtbare Stille; ſchweigend hängt auch Jeſus
Chriſtus am Creuz. Die finſtern Wolken ver-
ziehn ſich wieder, und das Licht der Sonne bricht
durch; aber nun verbreitet ſich die Finſterniß
des Todes um den leidenden Erlöſer, das Licht
ſeines Lebens verliſcht, er ruft: “es iſt voll-
&q;bracht! in deine Hände befehle ich, Va-
&q;ter, meinen Geiſt:”
neigt ſein Haupt, und
ſtirbt. — Nach ſo wenigen Stunden am Creuz,
wo andre Gemarterte Tage lang hiengen?
Wie ſchnell und unvermuthet, in den Augen
der Umſtehenden! —

Es
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[296/0348] ihre leiſeſten Seufzer zu horchen; wo der Hei- de den gekreuzigten Erlöſer an keinem Merk- mal, als vielleicht an ſeiner ſtillen Geduld und ſeiner Großmuth, von den andern Gekreuzigten unterſchied; und der Jude, von den Vorur- theilen ſeiner Obrigkeit angeſteckt, ihn mit Ver- achtung oder Haß betrachtete: bei dem Gedrän- ge und Geräuſche der umſtehenden Menge; — überzieht ſich, jedem Zuſchauer unerwartet, der Himmel mit ſchwarzen Wolken, durch die kein Strahl der Sonne dringt, und dunkle Schatten der Nacht verbreiten ſich rings umher. Wer konnte ſich doch erwähren, in dieſer furchtbaren Erſcheinung den Herrn der Natur zu erkennen? Das lärmende Getöſe verwandelt ſich in eine furchtbare Stille; ſchweigend hängt auch Jeſus Chriſtus am Creuz. Die finſtern Wolken ver- ziehn ſich wieder, und das Licht der Sonne bricht durch; aber nun verbreitet ſich die Finſterniß des Todes um den leidenden Erlöſer, das Licht ſeines Lebens verliſcht, er ruft: “es iſt voll- &q;bracht! in deine Hände befehle ich, Va- &q;ter, meinen Geiſt:” neigt ſein Haupt, und ſtirbt. — Nach ſo wenigen Stunden am Creuz, wo andre Gemarterte Tage lang hiengen? Wie ſchnell und unvermuthet, in den Augen der Umſtehenden! — Es

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Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/348>, abgerufen am 22.11.2024.