Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite



genügsamen Freude führen könnten. Ach, wir
sind ja nicht einmal, auch bei dem redlichsten Be-
streben niemals, ganz was wir seyn sollten, sind
nicht in jedem Augenblick unsers Lebens, in je-
dem Gedanken, jeder Neigung, jeder Handlung,
vollkommene Nachfolger Jesu Christi: auch das
beste Herz nährt noch gewiße Lieblingsneigungen,
mit denen es bei so manchen Gelegenheiten noch
immer mühsam zu kämpfen hat, um nicht über-
wunden, und zur Sünde verführt zu werden:
auch der Vorsichtigste strauchelt, auch der red-
lichste Tugendfreund wird manchmal übereilt.
Wie manche trübe Stunde, wie manche weh-
müthige heiße Sehnsucht nach bessrer Tugend,
muß uns, wenn wir gern unserm Herrn getreu
seyn mögten, dieses Gefühl unsrer Schwachheit
erwecken? Und wenn das alles nicht wäre: wir
leben ja noch in einer Welt, in der es so viel
menschenfeindlichen Herzen Freude macht andre
zu kränken, in der so viele ihren Vortheil auf den
Schaden andrer baun; in einer Welt, wo das
glückliche Laster, und die leidende Tugend, uns
manche Thräne abdringt; in einer Welt, wo
die Treue gegen unsre Pflichten, und die Be-
förderung des Guten, oft mit so viel Mühe um-
ringt ist, oft so viel Verleugnung sinnlicher Vor-

theile,



genügſamen Freude führen könnten. Ach, wir
ſind ja nicht einmal, auch bei dem redlichſten Be-
ſtreben niemals, ganz was wir ſeyn ſollten, ſind
nicht in jedem Augenblick unſers Lebens, in je-
dem Gedanken, jeder Neigung, jeder Handlung,
vollkommene Nachfolger Jeſu Chriſti: auch das
beſte Herz nährt noch gewiße Lieblingsneigungen,
mit denen es bei ſo manchen Gelegenheiten noch
immer mühſam zu kämpfen hat, um nicht über-
wunden, und zur Sünde verführt zu werden:
auch der Vorſichtigſte ſtrauchelt, auch der red-
lichſte Tugendfreund wird manchmal übereilt.
Wie manche trübe Stunde, wie manche weh-
müthige heiße Sehnſucht nach beſſrer Tugend,
muß uns, wenn wir gern unſerm Herrn getreu
ſeyn mögten, dieſes Gefühl unſrer Schwachheit
erwecken? Und wenn das alles nicht wäre: wir
leben ja noch in einer Welt, in der es ſo viel
menſchenfeindlichen Herzen Freude macht andre
zu kränken, in der ſo viele ihren Vortheil auf den
Schaden andrer baun; in einer Welt, wo das
glückliche Laſter, und die leidende Tugend, uns
manche Thräne abdringt; in einer Welt, wo
die Treue gegen unſre Pflichten, und die Be-
förderung des Guten, oft mit ſo viel Mühe um-
ringt iſt, oft ſo viel Verleugnung ſinnlicher Vor-

theile,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0298" n="246"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
genüg&#x017F;amen Freude führen könnten. Ach, wir<lb/>
&#x017F;ind ja nicht einmal, auch bei dem redlich&#x017F;ten Be-<lb/>
&#x017F;treben niemals, ganz was wir &#x017F;eyn &#x017F;ollten, &#x017F;ind<lb/>
nicht in jedem Augenblick un&#x017F;ers Lebens, in je-<lb/>
dem Gedanken, jeder Neigung, jeder Handlung,<lb/>
vollkommene Nachfolger Je&#x017F;u Chri&#x017F;ti: auch das<lb/>
be&#x017F;te Herz nährt noch gewiße Lieblingsneigungen,<lb/>
mit denen es bei &#x017F;o manchen Gelegenheiten noch<lb/>
immer müh&#x017F;am zu kämpfen hat, um nicht über-<lb/>
wunden, und zur Sünde verführt zu werden:<lb/>
auch der Vor&#x017F;ichtig&#x017F;te &#x017F;trauchelt, auch der red-<lb/>
lich&#x017F;te Tugendfreund wird manchmal übereilt.<lb/>
Wie manche trübe Stunde, wie manche weh-<lb/>
müthige heiße Sehn&#x017F;ucht nach be&#x017F;&#x017F;rer Tugend,<lb/>
muß uns, wenn wir gern un&#x017F;erm Herrn getreu<lb/>
&#x017F;eyn mögten, die&#x017F;es Gefühl un&#x017F;rer Schwachheit<lb/>
erwecken? Und wenn das alles nicht wäre: wir<lb/>
leben ja noch in einer Welt, in der es &#x017F;o viel<lb/>
men&#x017F;chenfeindlichen Herzen Freude macht andre<lb/>
zu kränken, in der &#x017F;o viele ihren Vortheil auf den<lb/>
Schaden andrer baun; in einer Welt, wo das<lb/>
glückliche La&#x017F;ter, und die leidende Tugend, uns<lb/>
manche Thräne abdringt; in einer Welt, wo<lb/>
die Treue gegen un&#x017F;re Pflichten, und die Be-<lb/>
förderung des Guten, oft mit &#x017F;o viel Mühe um-<lb/>
ringt i&#x017F;t, oft &#x017F;o viel Verleugnung &#x017F;innlicher Vor-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">theile,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0298] genügſamen Freude führen könnten. Ach, wir ſind ja nicht einmal, auch bei dem redlichſten Be- ſtreben niemals, ganz was wir ſeyn ſollten, ſind nicht in jedem Augenblick unſers Lebens, in je- dem Gedanken, jeder Neigung, jeder Handlung, vollkommene Nachfolger Jeſu Chriſti: auch das beſte Herz nährt noch gewiße Lieblingsneigungen, mit denen es bei ſo manchen Gelegenheiten noch immer mühſam zu kämpfen hat, um nicht über- wunden, und zur Sünde verführt zu werden: auch der Vorſichtigſte ſtrauchelt, auch der red- lichſte Tugendfreund wird manchmal übereilt. Wie manche trübe Stunde, wie manche weh- müthige heiße Sehnſucht nach beſſrer Tugend, muß uns, wenn wir gern unſerm Herrn getreu ſeyn mögten, dieſes Gefühl unſrer Schwachheit erwecken? Und wenn das alles nicht wäre: wir leben ja noch in einer Welt, in der es ſo viel menſchenfeindlichen Herzen Freude macht andre zu kränken, in der ſo viele ihren Vortheil auf den Schaden andrer baun; in einer Welt, wo das glückliche Laſter, und die leidende Tugend, uns manche Thräne abdringt; in einer Welt, wo die Treue gegen unſre Pflichten, und die Be- förderung des Guten, oft mit ſo viel Mühe um- ringt iſt, oft ſo viel Verleugnung ſinnlicher Vor- theile,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/298
Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/298>, abgerufen am 23.11.2024.