Jch habe mich allezeit sehr in Acht genommen, wider das, was ein anderer geschrieben hat, zu disputiren. Nicht deswegen, weil ich solches etwan für unbillig gehalten hätte; es hat ein jeder die Freyheit, das, was er in den Wissenschaften für wahr hält, öffentlich für wahr zu erkennen, und folglich muß er auch das Recht haben, das- jenige, was ihm wider die Wahrheit zu streiten scheint, zu widerlegen. Allein ich habe geglaubt, daß es sehr wohl möglich sey, eine Warheit aufs Beste zu vertheidigen ohne eines andern seine Sätze, die wider diese Wahrheit streiten, förm- lich anzugreifen. Denn, da ein Satz, wenn er einmahl wahr ist, unmöglich auch falsch seyn kann; so habe ich ja weiter nichts nöthig, als diesen Satz so zu beweisen, daß niemand an dessen Wahrheit mehr zweifelt, und die Gründe, welche wider die- sen Satz angeführt werden, fallen alsdann eben dadurch von selbsten schon weg. Da nun also auf diese Art alle Dispüten unangenehm sind, was treibt mich denn dazu, mich in eine unangenehme Sache einzulassen? Da ich also meine Dissertation schrieb, so setzte ich mir dieses als eine Regel vor, daß ich in derselben wider niemanden disputiren wollte.
Daher werden Sie zwar allenthalben von demjenigen, was ich für wahr halte, Beweise finden. Nirgend aber werden Sie förmliche Wi-
derle-
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3. Abſchnitt. Beweiß der Epigeneſis.
Jch habe mich allezeit ſehr in Acht genommen, wider das, was ein anderer geſchrieben hat, zu diſputiren. Nicht deswegen, weil ich ſolches etwan fuͤr unbillig gehalten haͤtte; es hat ein jeder die Freyheit, das, was er in den Wiſſenſchaften fuͤr wahr haͤlt, oͤffentlich fuͤr wahr zu erkennen, und folglich muß er auch das Recht haben, das- jenige, was ihm wider die Wahrheit zu ſtreiten ſcheint, zu widerlegen. Allein ich habe geglaubt, daß es ſehr wohl moͤglich ſey, eine Warheit aufs Beſte zu vertheidigen ohne eines andern ſeine Saͤtze, die wider dieſe Wahrheit ſtreiten, foͤrm- lich anzugreifen. Denn, da ein Satz, wenn er einmahl wahr iſt, unmoͤglich auch falſch ſeyn kann; ſo habe ich ja weiter nichts noͤthig, als dieſen Satz ſo zu beweiſen, daß niemand an deſſen Wahrheit mehr zweifelt, und die Gruͤnde, welche wider die- ſen Satz angefuͤhrt werden, fallen alsdann eben dadurch von ſelbſten ſchon weg. Da nun alſo auf dieſe Art alle Diſpuͤten unangenehm ſind, was treibt mich denn dazu, mich in eine unangenehme Sache einzulaſſen? Da ich alſo meine Diſſertation ſchrieb, ſo ſetzte ich mir dieſes als eine Regel vor, daß ich in derſelben wider niemanden diſputiren wollte.
Daher werden Sie zwar allenthalben von demjenigen, was ich fuͤr wahr halte, Beweiſe finden. Nirgend aber werden Sie foͤrmliche Wi-
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3. Abſchnitt.
Beweiß der Epigeneſis.
Jch habe mich allezeit ſehr in Acht genommen,
wider das, was ein anderer geſchrieben hat,
zu diſputiren. Nicht deswegen, weil ich ſolches
etwan fuͤr unbillig gehalten haͤtte; es hat ein jeder
die Freyheit, das, was er in den Wiſſenſchaften
fuͤr wahr haͤlt, oͤffentlich fuͤr wahr zu erkennen,
und folglich muß er auch das Recht haben, das-
jenige, was ihm wider die Wahrheit zu ſtreiten
ſcheint, zu widerlegen. Allein ich habe geglaubt,
daß es ſehr wohl moͤglich ſey, eine Warheit aufs
Beſte zu vertheidigen ohne eines andern ſeine
Saͤtze, die wider dieſe Wahrheit ſtreiten, foͤrm-
lich anzugreifen. Denn, da ein Satz, wenn er
einmahl wahr iſt, unmoͤglich auch falſch ſeyn kann;
ſo habe ich ja weiter nichts noͤthig, als dieſen Satz
ſo zu beweiſen, daß niemand an deſſen Wahrheit
mehr zweifelt, und die Gruͤnde, welche wider die-
ſen Satz angefuͤhrt werden, fallen alsdann eben
dadurch von ſelbſten ſchon weg. Da nun alſo auf
dieſe Art alle Diſpuͤten unangenehm ſind, was
treibt mich denn dazu, mich in eine unangenehme
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ich in derſelben wider niemanden diſputiren wollte.
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Wolff, Caspar Friedrich: Theorie von der Generation. Berlin, 1764, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_theorie_1764/57>, abgerufen am 03.03.2025.
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