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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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seiner Gesundheit wegen. Wir waren Beide gerührt bei seinem Abschiede, er sehr gefaßt, aber immer wird der Ausdruck mir gegenwärtig bleiben, womit er scheidend sagte: Gedenken Sie zuweilen eines treuen Freundes!

Dieser lange, ausführliche Brief wird mir hoffentlich Vergebung für mein Stillschweigen erwerben. Vergilt es nicht und sage mir bald, daß du wohl, heiter, mit mir zufrieden bist. Mir scheint, ich bin, seitdem Victor geschrieben, um zehn Jahre älter, ernster, bedachtsamer geworden. Ob ich dabei gewonnen? Wer weiß es? Es verdrießt mich immer, wenn ich Jemanden nachsagen höre: er müsse bedächtiger, überlegter zu Werke gehn; och! ließe man nur Jeden gewähren, das Leid des Lebens wird die Erziehung schon übernehmen. -- Lebewohl, meine liebste Freundin! --

Charlottens Tod, welche von Emmy tief und herzlich betrauert wurde, machte den brieflichen Mittheilungen derselben ein Ende. Ungefähr nach einem Jahr kehrte R. zurück, Sophien in seine Heimath abzuholen. Emmy blieb zu Herrn Steffano's Gesellschaft und Pflege und führte den Hausstand mit Umsicht und Geschick. Auch Sternheim kehrte von seinen Reisen zu seinem Berufe zurück. Er kam wieder, wie er gegangen, mit demselben ruhigen, gediegenen Wesen; nur in dem leicht umflorten Blick las man die Tiefe der

seiner Gesundheit wegen. Wir waren Beide gerührt bei seinem Abschiede, er sehr gefaßt, aber immer wird der Ausdruck mir gegenwärtig bleiben, womit er scheidend sagte: Gedenken Sie zuweilen eines treuen Freundes!

Dieser lange, ausführliche Brief wird mir hoffentlich Vergebung für mein Stillschweigen erwerben. Vergilt es nicht und sage mir bald, daß du wohl, heiter, mit mir zufrieden bist. Mir scheint, ich bin, seitdem Victor geschrieben, um zehn Jahre älter, ernster, bedachtsamer geworden. Ob ich dabei gewonnen? Wer weiß es? Es verdrießt mich immer, wenn ich Jemanden nachsagen höre: er müsse bedächtiger, überlegter zu Werke gehn; och! ließe man nur Jeden gewähren, das Leid des Lebens wird die Erziehung schon übernehmen. — Lebewohl, meine liebste Freundin! —

Charlottens Tod, welche von Emmy tief und herzlich betrauert wurde, machte den brieflichen Mittheilungen derselben ein Ende. Ungefähr nach einem Jahr kehrte R. zurück, Sophien in seine Heimath abzuholen. Emmy blieb zu Herrn Steffano's Gesellschaft und Pflege und führte den Hausstand mit Umsicht und Geschick. Auch Sternheim kehrte von seinen Reisen zu seinem Berufe zurück. Er kam wieder, wie er gegangen, mit demselben ruhigen, gediegenen Wesen; nur in dem leicht umflorten Blick las man die Tiefe der

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[0086] seiner Gesundheit wegen. Wir waren Beide gerührt bei seinem Abschiede, er sehr gefaßt, aber immer wird der Ausdruck mir gegenwärtig bleiben, womit er scheidend sagte: Gedenken Sie zuweilen eines treuen Freundes! Dieser lange, ausführliche Brief wird mir hoffentlich Vergebung für mein Stillschweigen erwerben. Vergilt es nicht und sage mir bald, daß du wohl, heiter, mit mir zufrieden bist. Mir scheint, ich bin, seitdem Victor geschrieben, um zehn Jahre älter, ernster, bedachtsamer geworden. Ob ich dabei gewonnen? Wer weiß es? Es verdrießt mich immer, wenn ich Jemanden nachsagen höre: er müsse bedächtiger, überlegter zu Werke gehn; och! ließe man nur Jeden gewähren, das Leid des Lebens wird die Erziehung schon übernehmen. — Lebewohl, meine liebste Freundin! — Charlottens Tod, welche von Emmy tief und herzlich betrauert wurde, machte den brieflichen Mittheilungen derselben ein Ende. Ungefähr nach einem Jahr kehrte R. zurück, Sophien in seine Heimath abzuholen. Emmy blieb zu Herrn Steffano's Gesellschaft und Pflege und führte den Hausstand mit Umsicht und Geschick. Auch Sternheim kehrte von seinen Reisen zu seinem Berufe zurück. Er kam wieder, wie er gegangen, mit demselben ruhigen, gediegenen Wesen; nur in dem leicht umflorten Blick las man die Tiefe der

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/86>, abgerufen am 21.11.2024.