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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Schwester, die den Fehl des geliebten Bruders nicht übersieht, aber ihn zu verdammen sich nicht berufen fühlt. Er bekam sein Wort zurück. -- Ich habe ihn nie mit Leidenschaft geliebt, würde aber eine gute, treue Frau geworden sein, und gewöhnt, mich als die Seine zu betrachten, hätte selbst das glänzendste Loos meine Seele nicht von ihm abwendig machen können, nachdem ich freiwillig, durch meine Worte an ihn gebunden war. -- O gewiß, bei gutgesinnten Frauen ist das Band der Ehen feiner, unzerreißbarer, als bei Männern! -- Welche Leere empfand ich! wem gehörte ich jetzt an in der Welt? -- Auch mein Verhältniß hier im Hause erschien mir völlig verändert; so flüchtet der einsame Wanderer vor Sturm und Unwetter unter die schirmenden Zweige eines herrlichen Baumes, dankbar erkennt er den ihm verliehenen Schutz, aber sein Auge strebt vorwärts nach der Heimath, nach dem eigenen Herde und Dache. -- Liebevoll ward ich getröstet, aufgerichtet, so weit es möglich war. Herr Steffano faßte nach der traurigen Mittheilung meine beiden Hände und sagte herzlich: So seien Sie jetzt wirklich meine Tochter, und daß ich Sie von heute an als solche betrachte, davon werden Sie sich überzeugen, wenn ich nicht mehr bin. Weinend sank ich mit dem Gesicht auf seine Hand, drückte meine Lippen auf dieselbe und benetzte sie mit heißen Thränen. -- Fremde bezeigten mir Zuneigung und Mitleid, während ich mich von dem Herzen verlassen sah, welches

Schwester, die den Fehl des geliebten Bruders nicht übersieht, aber ihn zu verdammen sich nicht berufen fühlt. Er bekam sein Wort zurück. — Ich habe ihn nie mit Leidenschaft geliebt, würde aber eine gute, treue Frau geworden sein, und gewöhnt, mich als die Seine zu betrachten, hätte selbst das glänzendste Loos meine Seele nicht von ihm abwendig machen können, nachdem ich freiwillig, durch meine Worte an ihn gebunden war. — O gewiß, bei gutgesinnten Frauen ist das Band der Ehen feiner, unzerreißbarer, als bei Männern! — Welche Leere empfand ich! wem gehörte ich jetzt an in der Welt? — Auch mein Verhältniß hier im Hause erschien mir völlig verändert; so flüchtet der einsame Wanderer vor Sturm und Unwetter unter die schirmenden Zweige eines herrlichen Baumes, dankbar erkennt er den ihm verliehenen Schutz, aber sein Auge strebt vorwärts nach der Heimath, nach dem eigenen Herde und Dache. — Liebevoll ward ich getröstet, aufgerichtet, so weit es möglich war. Herr Steffano faßte nach der traurigen Mittheilung meine beiden Hände und sagte herzlich: So seien Sie jetzt wirklich meine Tochter, und daß ich Sie von heute an als solche betrachte, davon werden Sie sich überzeugen, wenn ich nicht mehr bin. Weinend sank ich mit dem Gesicht auf seine Hand, drückte meine Lippen auf dieselbe und benetzte sie mit heißen Thränen. — Fremde bezeigten mir Zuneigung und Mitleid, während ich mich von dem Herzen verlassen sah, welches

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[0070] Schwester, die den Fehl des geliebten Bruders nicht übersieht, aber ihn zu verdammen sich nicht berufen fühlt. Er bekam sein Wort zurück. — Ich habe ihn nie mit Leidenschaft geliebt, würde aber eine gute, treue Frau geworden sein, und gewöhnt, mich als die Seine zu betrachten, hätte selbst das glänzendste Loos meine Seele nicht von ihm abwendig machen können, nachdem ich freiwillig, durch meine Worte an ihn gebunden war. — O gewiß, bei gutgesinnten Frauen ist das Band der Ehen feiner, unzerreißbarer, als bei Männern! — Welche Leere empfand ich! wem gehörte ich jetzt an in der Welt? — Auch mein Verhältniß hier im Hause erschien mir völlig verändert; so flüchtet der einsame Wanderer vor Sturm und Unwetter unter die schirmenden Zweige eines herrlichen Baumes, dankbar erkennt er den ihm verliehenen Schutz, aber sein Auge strebt vorwärts nach der Heimath, nach dem eigenen Herde und Dache. — Liebevoll ward ich getröstet, aufgerichtet, so weit es möglich war. Herr Steffano faßte nach der traurigen Mittheilung meine beiden Hände und sagte herzlich: So seien Sie jetzt wirklich meine Tochter, und daß ich Sie von heute an als solche betrachte, davon werden Sie sich überzeugen, wenn ich nicht mehr bin. Weinend sank ich mit dem Gesicht auf seine Hand, drückte meine Lippen auf dieselbe und benetzte sie mit heißen Thränen. — Fremde bezeigten mir Zuneigung und Mitleid, während ich mich von dem Herzen verlassen sah, welches

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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/70>, abgerufen am 21.11.2024.