F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht im Fluge gewonnen, wird nicht durch Bezauberung, sondern durch Ueberzeugung begründet. Zu dieser gehört Ernst, Erwägung, Vergleichung, und ich bilde mir wenigstens ein, daß solche Betrachtungen Ihnen noch ziemlich ferne gestanden, und daß Sie mehr durch ihn sich haben erfreuen als belehren lassen. -- Wäre es nicht artig, Sie führten ihn wirklich bei uns ein und theilten uns aus seinen Werken mit, was Ihrer Einsicht und Ihrer Neigung gut bedünkt? Mit Freuden werde ich das thun, befehlen Sie über Ihren Diener, und er wird sich, so oft seine Zeit es gestattet, in so ehrenwerther Gesellschaft bei Ihnen einfinden. -- Seit dem Tage lies't Sternheim uns jeden Abend vor, ein angenehmeres Zusammenleben läßt sich nicht denken. Es ist durchaus, als ob er zur Familie gehörte, kein Zwang, keine Bedenklichkeit irgend einer Art mischen sich in ein Verhältniß, welches dadurch, daß Sophie und ich verlobt sind, alles Auffallende verliert. Er kommt zu uns wie ein Bruder, der bei den Schwestern eines liebreichen Empfanges sicher ist. Zuweilen möchte ich wünschen, Sophie hätte R. nie gesehen; Sternheim würde ihren liebenswürdigen Charakter tausendmal besser würdigen. Oft wenn er das Buch hinlegt und hingerissen von der Schönheit des Gegenstandes sie auf jedes aufmerksam macht, fürchte ich, er werde zu tief in diese dunklen, blauen Augen sehen, die in unschuldiger Unbefangenheit auf ihn gerichtet sind. Auch erscheint seine Lage um so schwieriger, da sie nicht im Fluge gewonnen, wird nicht durch Bezauberung, sondern durch Ueberzeugung begründet. Zu dieser gehört Ernst, Erwägung, Vergleichung, und ich bilde mir wenigstens ein, daß solche Betrachtungen Ihnen noch ziemlich ferne gestanden, und daß Sie mehr durch ihn sich haben erfreuen als belehren lassen. — Wäre es nicht artig, Sie führten ihn wirklich bei uns ein und theilten uns aus seinen Werken mit, was Ihrer Einsicht und Ihrer Neigung gut bedünkt? Mit Freuden werde ich das thun, befehlen Sie über Ihren Diener, und er wird sich, so oft seine Zeit es gestattet, in so ehrenwerther Gesellschaft bei Ihnen einfinden. — Seit dem Tage lies't Sternheim uns jeden Abend vor, ein angenehmeres Zusammenleben läßt sich nicht denken. Es ist durchaus, als ob er zur Familie gehörte, kein Zwang, keine Bedenklichkeit irgend einer Art mischen sich in ein Verhältniß, welches dadurch, daß Sophie und ich verlobt sind, alles Auffallende verliert. Er kommt zu uns wie ein Bruder, der bei den Schwestern eines liebreichen Empfanges sicher ist. Zuweilen möchte ich wünschen, Sophie hätte R. nie gesehen; Sternheim würde ihren liebenswürdigen Charakter tausendmal besser würdigen. Oft wenn er das Buch hinlegt und hingerissen von der Schönheit des Gegenstandes sie auf jedes aufmerksam macht, fürchte ich, er werde zu tief in diese dunklen, blauen Augen sehen, die in unschuldiger Unbefangenheit auf ihn gerichtet sind. Auch erscheint seine Lage um so schwieriger, da sie <TEI> <text> <body> <div type="letter"> <p><pb facs="#f0056"/> nicht im Fluge gewonnen, wird nicht durch Bezauberung, sondern durch Ueberzeugung begründet. Zu dieser gehört Ernst, Erwägung, Vergleichung, und ich bilde mir wenigstens ein, daß solche Betrachtungen Ihnen noch ziemlich ferne gestanden, und daß Sie mehr durch ihn sich haben erfreuen als belehren lassen. — Wäre es nicht artig, Sie führten ihn wirklich bei uns ein und theilten uns aus seinen Werken mit, was Ihrer Einsicht und Ihrer Neigung gut bedünkt? Mit Freuden werde ich das thun, befehlen Sie über Ihren Diener, und er wird sich, so oft seine Zeit es gestattet, in so ehrenwerther Gesellschaft bei Ihnen einfinden. —</p><lb/> <p>Seit dem Tage lies't Sternheim uns jeden Abend vor, ein angenehmeres Zusammenleben läßt sich nicht denken. Es ist durchaus, als ob er zur Familie gehörte, kein Zwang, keine Bedenklichkeit irgend einer Art mischen sich in ein Verhältniß, welches dadurch, daß Sophie und ich verlobt sind, alles Auffallende verliert. Er kommt zu uns wie ein Bruder, der bei den Schwestern eines liebreichen Empfanges sicher ist. Zuweilen möchte ich wünschen, Sophie hätte R. nie gesehen; Sternheim würde ihren liebenswürdigen Charakter tausendmal besser würdigen. Oft wenn er das Buch hinlegt und hingerissen von der Schönheit des Gegenstandes sie auf jedes aufmerksam macht, fürchte ich, er werde zu tief in diese dunklen, blauen Augen sehen, die in unschuldiger Unbefangenheit auf ihn gerichtet sind. Auch erscheint seine Lage um so schwieriger, da sie<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0056]
nicht im Fluge gewonnen, wird nicht durch Bezauberung, sondern durch Ueberzeugung begründet. Zu dieser gehört Ernst, Erwägung, Vergleichung, und ich bilde mir wenigstens ein, daß solche Betrachtungen Ihnen noch ziemlich ferne gestanden, und daß Sie mehr durch ihn sich haben erfreuen als belehren lassen. — Wäre es nicht artig, Sie führten ihn wirklich bei uns ein und theilten uns aus seinen Werken mit, was Ihrer Einsicht und Ihrer Neigung gut bedünkt? Mit Freuden werde ich das thun, befehlen Sie über Ihren Diener, und er wird sich, so oft seine Zeit es gestattet, in so ehrenwerther Gesellschaft bei Ihnen einfinden. —
Seit dem Tage lies't Sternheim uns jeden Abend vor, ein angenehmeres Zusammenleben läßt sich nicht denken. Es ist durchaus, als ob er zur Familie gehörte, kein Zwang, keine Bedenklichkeit irgend einer Art mischen sich in ein Verhältniß, welches dadurch, daß Sophie und ich verlobt sind, alles Auffallende verliert. Er kommt zu uns wie ein Bruder, der bei den Schwestern eines liebreichen Empfanges sicher ist. Zuweilen möchte ich wünschen, Sophie hätte R. nie gesehen; Sternheim würde ihren liebenswürdigen Charakter tausendmal besser würdigen. Oft wenn er das Buch hinlegt und hingerissen von der Schönheit des Gegenstandes sie auf jedes aufmerksam macht, fürchte ich, er werde zu tief in diese dunklen, blauen Augen sehen, die in unschuldiger Unbefangenheit auf ihn gerichtet sind. Auch erscheint seine Lage um so schwieriger, da sie
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Zitationshilfe: | F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/56>, abgerufen am 16.02.2025. |