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F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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fragte, wie wir die Einsamkeit ertrügen? -- Einsamer ist es, entgegnete ich, aber dafür auch ruhiger. -- Ich habe, sagte er, Herrn R. mit großer Theilnahme beobachtet, er ist ein höchst merkwürdiger und jedenfalls sehr interessanter Mann. In ihm ist größere und geringere Tiefe, als man im Allgemeinen annehmen möchte. Er besitzt eine ernste Neigung, sich auszubilden, zum Verwundern bei einem Manne, für den der Wunsch zu gefallen Hauptzweck des Lebens zu sein scheint. Im ernsten Gespräche mit ihm vergißt man seine kleinen Schwächen und fühlt sich warm und innig zu ihm hingezogen. Einer großen Tiefe des Gefühls halte ich ihn unfähig, er besitzt zu viel Egoismus und einen Hang zur Veränderung, welcher mir nie in ähnlichem Grade vorgekommen ist. Uebrigens gehört er leider zu den Menschen, welche ihre schöne Befähigung mehr einer Idee als einem Gegenstände zuwenden. Er hat mir zuerst ganz klar vor Augen gelegt, was von Goethe über eine solche Sinnesrichtung geäußert worden. -- Ich kenne, war meine scherzende Erwiderung, fast nichts aus Ihrem Leben, aber einer Ihrer Freunde ist mir wohlbekannt, und der ist Goethe. -- Und ein Freund, entgegnete er, welchen ich ohne alle Eifersucht bei Ihnen einführen, dem ich Ihre ganze Zuneigung und Anerkennung gönnen möchte. -- Denken Sie denn, daß wir ihn nicht kennen? -- Das wohl, jedoch ihn lesen heißt nicht ihn kennen, bewundern heißt nicht immer eindringen. Bleibende, ewig anerkennende Neigung wird

fragte, wie wir die Einsamkeit ertrügen? — Einsamer ist es, entgegnete ich, aber dafür auch ruhiger. — Ich habe, sagte er, Herrn R. mit großer Theilnahme beobachtet, er ist ein höchst merkwürdiger und jedenfalls sehr interessanter Mann. In ihm ist größere und geringere Tiefe, als man im Allgemeinen annehmen möchte. Er besitzt eine ernste Neigung, sich auszubilden, zum Verwundern bei einem Manne, für den der Wunsch zu gefallen Hauptzweck des Lebens zu sein scheint. Im ernsten Gespräche mit ihm vergißt man seine kleinen Schwächen und fühlt sich warm und innig zu ihm hingezogen. Einer großen Tiefe des Gefühls halte ich ihn unfähig, er besitzt zu viel Egoismus und einen Hang zur Veränderung, welcher mir nie in ähnlichem Grade vorgekommen ist. Uebrigens gehört er leider zu den Menschen, welche ihre schöne Befähigung mehr einer Idee als einem Gegenstände zuwenden. Er hat mir zuerst ganz klar vor Augen gelegt, was von Goethe über eine solche Sinnesrichtung geäußert worden. — Ich kenne, war meine scherzende Erwiderung, fast nichts aus Ihrem Leben, aber einer Ihrer Freunde ist mir wohlbekannt, und der ist Goethe. — Und ein Freund, entgegnete er, welchen ich ohne alle Eifersucht bei Ihnen einführen, dem ich Ihre ganze Zuneigung und Anerkennung gönnen möchte. — Denken Sie denn, daß wir ihn nicht kennen? — Das wohl, jedoch ihn lesen heißt nicht ihn kennen, bewundern heißt nicht immer eindringen. Bleibende, ewig anerkennende Neigung wird

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[0055] fragte, wie wir die Einsamkeit ertrügen? — Einsamer ist es, entgegnete ich, aber dafür auch ruhiger. — Ich habe, sagte er, Herrn R. mit großer Theilnahme beobachtet, er ist ein höchst merkwürdiger und jedenfalls sehr interessanter Mann. In ihm ist größere und geringere Tiefe, als man im Allgemeinen annehmen möchte. Er besitzt eine ernste Neigung, sich auszubilden, zum Verwundern bei einem Manne, für den der Wunsch zu gefallen Hauptzweck des Lebens zu sein scheint. Im ernsten Gespräche mit ihm vergißt man seine kleinen Schwächen und fühlt sich warm und innig zu ihm hingezogen. Einer großen Tiefe des Gefühls halte ich ihn unfähig, er besitzt zu viel Egoismus und einen Hang zur Veränderung, welcher mir nie in ähnlichem Grade vorgekommen ist. Uebrigens gehört er leider zu den Menschen, welche ihre schöne Befähigung mehr einer Idee als einem Gegenstände zuwenden. Er hat mir zuerst ganz klar vor Augen gelegt, was von Goethe über eine solche Sinnesrichtung geäußert worden. — Ich kenne, war meine scherzende Erwiderung, fast nichts aus Ihrem Leben, aber einer Ihrer Freunde ist mir wohlbekannt, und der ist Goethe. — Und ein Freund, entgegnete er, welchen ich ohne alle Eifersucht bei Ihnen einführen, dem ich Ihre ganze Zuneigung und Anerkennung gönnen möchte. — Denken Sie denn, daß wir ihn nicht kennen? — Das wohl, jedoch ihn lesen heißt nicht ihn kennen, bewundern heißt nicht immer eindringen. Bleibende, ewig anerkennende Neigung wird

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:52:17Z)

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Zitationshilfe: F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_selbstsucht_1910/55>, abgerufen am 21.11.2024.