F. v. W. [Margarethe von Wolff]: Gemüth und Selbstsucht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 16. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.und ziemlich mißlaunig; gewiß, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. -- Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Betheuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint. -- Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophien bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Uebermuth über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studiren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Uebertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; o gewiß, die Sorgfalt und Langmuth der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophiens Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, daß sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche und ziemlich mißlaunig; gewiß, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. — Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Betheuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint. — Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophien bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Uebermuth über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studiren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Uebertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; o gewiß, die Sorgfalt und Langmuth der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophiens Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, daß sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche <TEI> <text> <body> <div type="letter"> <p><pb facs="#f0044"/> und ziemlich mißlaunig; gewiß, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. — Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Betheuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint. —</p><lb/> <p>Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophien bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Uebermuth über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studiren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Uebertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; o gewiß, die Sorgfalt und Langmuth der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophiens Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, daß sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
und ziemlich mißlaunig; gewiß, und diese Gerechtigkeit lasse ich ihm widerfahren, mehr um Fassung zu behaupten, als aus Gefühllosigkeit. — Sternheim und ich boten im stillschweigenden Einverständnisse Alles auf, um das Beisammensein weniger peinlich zu machen. Während der Zeit bekam ich, damit Alles zusammen träfe, einen Brief von Victor, voll eifersüchtiger Grillen über R.'s Anwesenheit hier im Hause. Ich hätte ihm gerne antworten mögen: Fürchte Gott und scheue Niemand; meine geistreichsten Einfälle haben aber nicht immer das Glück gehabt ihm zu gefallen, und so schrieb ich einen endlosen Brief voll der besten Betheuerungen, der ihn auch zufrieden gestellt zu haben scheint. —
Mehr als je habe ich in dieser Zeit Sophien bewundert: wie tief ergriffen und doch wie sanft hat sie getragen, was ganz nutzloser Uebermuth über sie verhängte. R. war in den letzten Wochen wenig sichtbar, da er noch manche ältere Werke studiren wollte; dieser Mensch versteht nie Maß zu halten, er ist entweder ganz müßig, oder mit Uebertreibung beschäftigt. Endlich kam der Tag seiner Abreise, für welche wir noch Vieles geordnet hatten; o gewiß, die Sorgfalt und Langmuth der Frauen ist unerschöpflich! Am Morgen dieses Tages hatte ich mir eine Menge Bücher aus Sophiens Zimmer geholt und mit kindischer Laune eine solche Anzahl genommen, daß sie mir bis ans Kinn reichten. R., welcher mir begegnete, kam über den Anblick ins Lachen, auch ich lachte, meine künstliche
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