Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_076.001 Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert pwo_076.004 Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja pwo_076.020 "Es schüttelte den Bart, | es schwenkte das Haar pwo_076.023 pwo_076.024Der Erde Sohn, | um sich greifend," wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser pwo_076.025 "Dann sank sie kraftlos | aufs Kissen zurück, pwo_076.030 pwo_076.036Das Haar war gelöst, | heiß brannte die Wange, pwo_076.031 Und ein Strom von Zähren | stürzt' in den Schoß. pwo_076.032 Da weinte Gudrun, | Gjukis Tochter, pwo_076.033 Daß wie tosende Bäche | die Thränen rannen pwo_076.034 Und gellend im Hofe | die Gänse aufschrien, pwo_076.035 Die weißen Vögel, | die das Weib besaß." Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe pwo_076.001 Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert pwo_076.004 Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja pwo_076.020 „Es schüttelte den Bart, │ es schwenkte das Haar pwo_076.023 pwo_076.024Der Erde Sohn, │ um sich greifend,“ wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser pwo_076.025 „Dann sank sie kraftlos │ aufs Kissen zurück, pwo_076.030 pwo_076.036Das Haar war gelöst, │ heiß brannte die Wange, pwo_076.031 Und ein Strom von Zähren │ stürzt' in den Schoß. pwo_076.032 Da weinte Gudrun, │ Gjukis Tochter, pwo_076.033 Daß wie tosende Bäche │ die Thränen rannen pwo_076.034 Und gellend im Hofe │ die Gänse aufschrien, pwo_076.035 Die weißen Vögel, │ die das Weib besaß.“ Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0090" n="76"/><lb n="pwo_076.001"/> dem lesenden Auge vorüberrollt, muß sich um so bewegter <hi rendition="#g">scenisch</hi> <lb n="pwo_076.002"/> entfalten.</p> <lb n="pwo_076.003"/> <p> Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert <lb n="pwo_076.004"/> gleichmäßig Anschaulichkeit. Sie läßt sich denn auch bereits an <lb n="pwo_076.005"/> den primitivsten Heldenliedern erkennen, – und wir können uns dieselben <lb n="pwo_076.006"/> in der Frühzeit nicht gut primitiv genug vorstellen. Zur Veranschaulichung <lb n="pwo_076.007"/> genügt oft nicht die allgemeine Bezeichnung der handelnden <lb n="pwo_076.008"/> Person: vielmehr werden als Organe der Thätigkeit die entsprechenden <lb n="pwo_076.009"/> Körperteile genannt: die Füße gehen, die Hand streitet; <lb n="pwo_076.010"/> ebenso tritt zur äußeren Bezeichnung der Person oft die handgreifliche <lb n="pwo_076.011"/> Wendung: der Leib des Ritters oder dergl. Der Drang nach Handlungsfülle <lb n="pwo_076.012"/> zieht überall inhaltreiche Verba herbei, namentlich auch zum <lb n="pwo_076.013"/> Ersatz von Substantiven mit Praeposition: man geht nicht <hi rendition="#g">zu</hi> jemand <lb n="pwo_076.014"/> hin, sondern: man geht hin, wo er <hi rendition="#g">sitzt</hi> oder dergl.; das Gesinde <lb n="pwo_076.015"/> befolgt nicht des Königs Gebot, sondern: was der König gebot. <lb n="pwo_076.016"/> Solche Elemente fand anscheinend noch der Nibelungendichter in den <lb n="pwo_076.017"/> umlaufenden Liedern des gleichen Stoffes, zum teil wurde dieser Stil <lb n="pwo_076.018"/> von den ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Heldensage übernommen.</p> <lb n="pwo_076.019"/> <p> Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja <lb n="pwo_076.020"/> der Stilepoche angehören, wo neben einander Göttermythos und Heldensage <lb n="pwo_076.021"/> in erzählenden Liedern erscheinen.</p> <lb n="pwo_076.022"/> <lg> <l>„Es schüttelte den Bart, │ es schwenkte das Haar</l> <lb n="pwo_076.023"/> <l>Der Erde Sohn, │ um sich greifend,“</l> </lg> <lb n="pwo_076.024"/> <p>wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser <lb n="pwo_076.025"/> sinnfällige Stil beschränkt seine Wirkung nicht auf das Gesicht: daneben <lb n="pwo_076.026"/> wird, echt dramatisch, der Schall für das Ohr veranschaulicht. <lb n="pwo_076.027"/> Wenn Loki fliegt, rauscht sein Federkleid. Gudrun sieht des toten <lb n="pwo_076.028"/> Gatten Haupt:</p> <lb n="pwo_076.029"/> <lg> <l>„Dann sank sie kraftlos │ aufs Kissen zurück,</l> <lb n="pwo_076.030"/> <l>Das Haar war gelöst, │ heiß brannte die Wange,</l> <lb n="pwo_076.031"/> <l>Und ein Strom von Zähren │ stürzt' in den Schoß.</l> <lb n="pwo_076.032"/> <l> Da weinte Gudrun, │ Gjukis Tochter,</l> <lb n="pwo_076.033"/> <l>Daß wie <hi rendition="#g">tosende</hi> Bäche │ die Thränen rannen</l> <lb n="pwo_076.034"/> <l>Und <hi rendition="#g">gellend</hi> im Hofe │ die Gänse <hi rendition="#g">aufschrien,</hi></l> <lb n="pwo_076.035"/> <l>Die weißen Vögel, │ die das Weib besaß.“</l> </lg> <lb n="pwo_076.036"/> <p>Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0090]
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dem lesenden Auge vorüberrollt, muß sich um so bewegter scenisch pwo_076.002
entfalten.
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Dieses Streben nach Plastik und dramatischer Bewegung postuliert pwo_076.004
gleichmäßig Anschaulichkeit. Sie läßt sich denn auch bereits an pwo_076.005
den primitivsten Heldenliedern erkennen, – und wir können uns dieselben pwo_076.006
in der Frühzeit nicht gut primitiv genug vorstellen. Zur Veranschaulichung pwo_076.007
genügt oft nicht die allgemeine Bezeichnung der handelnden pwo_076.008
Person: vielmehr werden als Organe der Thätigkeit die entsprechenden pwo_076.009
Körperteile genannt: die Füße gehen, die Hand streitet; pwo_076.010
ebenso tritt zur äußeren Bezeichnung der Person oft die handgreifliche pwo_076.011
Wendung: der Leib des Ritters oder dergl. Der Drang nach Handlungsfülle pwo_076.012
zieht überall inhaltreiche Verba herbei, namentlich auch zum pwo_076.013
Ersatz von Substantiven mit Praeposition: man geht nicht zu jemand pwo_076.014
hin, sondern: man geht hin, wo er sitzt oder dergl.; das Gesinde pwo_076.015
befolgt nicht des Königs Gebot, sondern: was der König gebot. pwo_076.016
Solche Elemente fand anscheinend noch der Nibelungendichter in den pwo_076.017
umlaufenden Liedern des gleichen Stoffes, zum teil wurde dieser Stil pwo_076.018
von den ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Heldensage übernommen.
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Plastische Gestalten veranschaulichen auch die Eddalieder, die ja pwo_076.020
der Stilepoche angehören, wo neben einander Göttermythos und Heldensage pwo_076.021
in erzählenden Liedern erscheinen.
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„Es schüttelte den Bart, │ es schwenkte das Haar pwo_076.023
Der Erde Sohn, │ um sich greifend,“
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wie es gleich am Beginn des Liedes von Thrym heißt. Aber dieser pwo_076.025
sinnfällige Stil beschränkt seine Wirkung nicht auf das Gesicht: daneben pwo_076.026
wird, echt dramatisch, der Schall für das Ohr veranschaulicht. pwo_076.027
Wenn Loki fliegt, rauscht sein Federkleid. Gudrun sieht des toten pwo_076.028
Gatten Haupt:
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„Dann sank sie kraftlos │ aufs Kissen zurück, pwo_076.030
Das Haar war gelöst, │ heiß brannte die Wange, pwo_076.031
Und ein Strom von Zähren │ stürzt' in den Schoß. pwo_076.032
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Daß wie tosende Bäche │ die Thränen rannen pwo_076.034
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Die weißen Vögel, │ die das Weib besaß.“
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Auch das Klirren der Waffen und Rüstungen wird mit Vorliebe
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