Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_067.001
schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater pwo_067.002
erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden pwo_067.003
es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich pwo_067.004
begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem pwo_067.005
Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest: pwo_067.006
die Sage ist der mündlich fortgepflanzte Bericht über die pwo_067.007
nationale Vergangenheit.

pwo_067.008

Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten pwo_067.009
Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen pwo_067.010
Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte pwo_067.011
Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der pwo_067.012
Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an pwo_067.013
einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen, pwo_067.014
wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem pwo_067.015
Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet pwo_067.016
war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so pwo_067.017
durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei pwo_067.018
Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem pwo_067.019
Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung pwo_067.020
heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes pwo_067.021
bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen pwo_067.022
führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der pwo_067.023
Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten pwo_067.024
Bericht über die nationale Vergangenheit in ständiger Umbildung pwo_067.025
durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie.

pwo_067.026

Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich pwo_067.027
die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise pwo_067.028
unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch-heroisches Gewand.

pwo_067.029

Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten pwo_067.030
auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde pwo_067.031
für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung. pwo_067.032
Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den pwo_067.033
Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später pwo_067.034
unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme; pwo_067.035
so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm pwo_067.036
Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer,

pwo_067.001
schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater pwo_067.002
erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden pwo_067.003
es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich pwo_067.004
begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem pwo_067.005
Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest: pwo_067.006
die Sage ist der mündlich fortgepflanzte Bericht über die pwo_067.007
nationale Vergangenheit.

pwo_067.008

  Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten pwo_067.009
Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen pwo_067.010
Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte pwo_067.011
Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der pwo_067.012
Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an pwo_067.013
einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen, pwo_067.014
wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem pwo_067.015
Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet pwo_067.016
war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so pwo_067.017
durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei pwo_067.018
Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem pwo_067.019
Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung pwo_067.020
heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes pwo_067.021
bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen pwo_067.022
führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der pwo_067.023
Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten pwo_067.024
Bericht über die nationale Vergangenheit in ständiger Umbildung pwo_067.025
durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie.

pwo_067.026

  Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich pwo_067.027
die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise pwo_067.028
unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch-heroisches Gewand.

pwo_067.029

  Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten pwo_067.030
auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde pwo_067.031
für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung. pwo_067.032
Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den pwo_067.033
Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später pwo_067.034
unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme; pwo_067.035
so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm pwo_067.036
Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0081" n="67"/><lb n="pwo_067.001"/>
schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater <lb n="pwo_067.002"/>
erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden <lb n="pwo_067.003"/>
es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich <lb n="pwo_067.004"/>
begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem <lb n="pwo_067.005"/>
Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest: <lb n="pwo_067.006"/>
die Sage ist der <hi rendition="#g">mündlich fortgepflanzte Bericht über die <lb n="pwo_067.007"/>
nationale Vergangenheit.</hi></p>
            <lb n="pwo_067.008"/>
            <p>  Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten <lb n="pwo_067.009"/>
Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen <lb n="pwo_067.010"/>
Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte <lb n="pwo_067.011"/>
Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der <lb n="pwo_067.012"/>
Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an <lb n="pwo_067.013"/>
einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen, <lb n="pwo_067.014"/>
wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem <lb n="pwo_067.015"/>
Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet <lb n="pwo_067.016"/>
war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so <lb n="pwo_067.017"/>
durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei <lb n="pwo_067.018"/>
Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem <lb n="pwo_067.019"/>
Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung <lb n="pwo_067.020"/>
heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes <lb n="pwo_067.021"/>
bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen <lb n="pwo_067.022"/>
führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der <lb n="pwo_067.023"/>
Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten <lb n="pwo_067.024"/>
Bericht über die nationale Vergangenheit <hi rendition="#g">in ständiger Umbildung <lb n="pwo_067.025"/>
durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie.</hi></p>
            <lb n="pwo_067.026"/>
            <p>  Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich <lb n="pwo_067.027"/>
die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise <lb n="pwo_067.028"/>
unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch-heroisches Gewand.</p>
            <lb n="pwo_067.029"/>
            <p>  Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten <lb n="pwo_067.030"/>
auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde <lb n="pwo_067.031"/>
für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung. <lb n="pwo_067.032"/>
Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den <lb n="pwo_067.033"/>
Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später <lb n="pwo_067.034"/>
unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme; <lb n="pwo_067.035"/>
so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm <lb n="pwo_067.036"/>
Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0081] pwo_067.001 schriftlicher Aufzeichnung mündliche Ueberlieferung. Der Vater pwo_067.002 erzählt es dem Sohne, dieser dem Enkel; die ergrauten Recken künden pwo_067.003 es der waffenfähigen Jugend: an den Thaten der Väter soll sie sich pwo_067.004 begeistern und aufrichten, ihnen nacheifern in Tapferkeit, geschehenem pwo_067.005 Unheil aber pietätvolle Teilnahme schenken. Danach steht zunächst fest: pwo_067.006 die Sage ist der mündlich fortgepflanzte Bericht über die pwo_067.007 nationale Vergangenheit. pwo_067.008   Mannigfaltig sind nun die Schicksale eines mündlich fortgepflanzten pwo_067.009 Berichtes. Da schon selbsterlebte Thatsachen verschiedenen Auffassungen pwo_067.010 Raum geben, laufen oft von vorn herein verschieden gefärbte pwo_067.011 Berichte über dasselbe Ereignis um. Noch weiter verschiebt sich der pwo_067.012 Thatbestand, indem es der eine dem andern erzählt, dieser es an pwo_067.013 einen dritten und vierten weitergiebt. Noch heute können wir verfolgen, pwo_067.014 wie das Gerücht aufbauscht, verschiebt, entstellt; in wie höherem pwo_067.015 Grade zu einer Zeit, da der kritische Sinn weit weniger ausgebildet pwo_067.016 war. Geht der Bericht gar von Geschlecht zu Geschlecht, so pwo_067.017 durchkreuzt er sich mit andern Ueberlieferungen, begegnet mancherlei pwo_067.018 Mißverständnissen, fordert vor allem die Volksphantasie in weitem pwo_067.019 Umfang zur Ergänzung von Lücken, zur Ausmalung und Veranschaulichung pwo_067.020 heraus. Bei alledem wird sich indes niemand des Eingriffes pwo_067.021 bewußt, der zur Verdunkelung oder zur Ausschmückung der Thatsachen pwo_067.022 führt; noch immer steht der Glaube an die objektive Wahrheit der pwo_067.023 Ueberlieferung fest. So wird die Sage zum mündlich fortgepflanzten pwo_067.024 Bericht über die nationale Vergangenheit in ständiger Umbildung pwo_067.025 durch das unbewußte Eingreifen der Phantasie. pwo_067.026   Unter diesen Zuthaten spielt eine bedeutsame Rolle namentlich pwo_067.027 die Verbindung der Heldensage mit mythischen Elementen, teilweise pwo_067.028 unter Einkleidung von Göttergestalten in historisch-heroisches Gewand. pwo_067.029   Unsere heimische Sage läßt sich noch in wesentlichen Punkten pwo_067.030 auf eine derartige Entstehung zurückverfolgen. Kein Ereignis wurde pwo_067.031 für die deutsche Heldensage gleich epochemachend wie die Völkerwanderung. pwo_067.032 Jm Jahre 374 fällt der Ostgothenkönig Ermanrich, von den pwo_067.033 Hunnen besiegt, durch Selbstmord. Dreiviertel Jahrhundert später pwo_067.034 unterjocht der Hunnenkönig Attila (Etzel) zahlreiche deutsche Stämme; pwo_067.035 so weilt in seinem Gefolge auch der Ostgothenkönig Theodomer. Jm pwo_067.036 Jahre 476 entthront sodann Odovakar, ein gothischer Söldnerführer,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/81
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/81>, abgerufen am 25.11.2024.