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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Nicht mehr sind wir angewiesen auf die rein formelle Erklärung der pwo_058.002
Poesie als "der gebundenen Rede; außerdem aber einiger Anwendungen pwo_058.003
der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen pwo_058.004
in naher Verwandtschaft stehen." Der Unterschied heißt nun: pwo_058.005
hier Sprache des Gefühls, dort Sprache des bloßen Gedankens. pwo_058.006
Aehnlich wie sich die Kunstmalerei von der mechanischen Photographie pwo_058.007
unterscheidet: während die letztere unbedingte, reflexionslose Wiedergabe pwo_058.008
des Gegenstandes bietet, erstrebt die Kunst stimmungsvolle Erfassung, pwo_058.009
gemütvolle Durchdringung desselben.

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Zur Beurteilung der platt-naturalistischen Doktrin ergiebt sich pwo_058.011
gleichzeitig ein neuer Maßstab: sie, die der Prosa näher steht als der pwo_058.012
Poesie, ignoriert den Zweck - die Gesühlserhebung -, um das pwo_058.013
Mittel, den Anreger der Gefühle - den Stoff - zur Alleinherrschaft pwo_058.014
in ihrem Werk zu verstatten.

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Die poetische Wirkung selbst ist stofflos: nicht mehr den einzelnen pwo_058.016
Helden, unser eigenes immanentes Gefühlsleben geht der künstlerische pwo_058.017
Eindruck an. Jndem sie uns "auf schwanker Leiter der Gefühle" pwo_058.018
emporhebt, führt uns die Poesie über die Alltäglichkeit hinaus, pwo_058.019
stärkt unser Gefühlsleben, auf daß wir nicht im dumpfen Sinnentrieb pwo_058.020
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"Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, pwo_058.022
Die im Herzen wunderbar schliefen",
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wie Schiller durchaus bezeichnend sagt.

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Die Gefühlsstärke des Dichters.
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Noch eine bedeutungsvolle Thatsache ist hier anzureihen: betreffend pwo_058.027
die allgemeine Gemütsbeschaffenheit des Künstlers, besonders des pwo_058.028
Dichters. Bestände sein Talent in bloßer Nachahmungsgabe, so hätte pwo_058.029
er kein Recht auf andere Beurteilung seines Gefühlslebens, als der pwo_058.030
übrigen Menschheit zugestanden wird. Bestände sein Talent gar in pwo_058.031
einer direkt erzieherischen Anlage, so bliebe noch weniger Veranlassung, pwo_058.032
die Leidenschaft der Dichterseele anzuerkennen.

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Anders, wenn verstärktes Gefühlsleben das Wesen des Dichters pwo_058.034
ausmacht. Dann verstehen wir den scheinbaren Widerspruch, daß er

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Poesie, ignoriert den Zweck – die Gesühlserhebung –, um das pwo_058.013
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wie Schiller durchaus bezeichnend sagt.

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die Leidenschaft der Dichterseele anzuerkennen.

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[58/0072] pwo_058.001 Nicht mehr sind wir angewiesen auf die rein formelle Erklärung der pwo_058.002 Poesie als „der gebundenen Rede; außerdem aber einiger Anwendungen pwo_058.003 der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen pwo_058.004 in naher Verwandtschaft stehen.“ Der Unterschied heißt nun: pwo_058.005 hier Sprache des Gefühls, dort Sprache des bloßen Gedankens. pwo_058.006 Aehnlich wie sich die Kunstmalerei von der mechanischen Photographie pwo_058.007 unterscheidet: während die letztere unbedingte, reflexionslose Wiedergabe pwo_058.008 des Gegenstandes bietet, erstrebt die Kunst stimmungsvolle Erfassung, pwo_058.009 gemütvolle Durchdringung desselben. pwo_058.010   Zur Beurteilung der platt-naturalistischen Doktrin ergiebt sich pwo_058.011 gleichzeitig ein neuer Maßstab: sie, die der Prosa näher steht als der pwo_058.012 Poesie, ignoriert den Zweck – die Gesühlserhebung –, um das pwo_058.013 Mittel, den Anreger der Gefühle – den Stoff – zur Alleinherrschaft pwo_058.014 in ihrem Werk zu verstatten. pwo_058.015   Die poetische Wirkung selbst ist stofflos: nicht mehr den einzelnen pwo_058.016 Helden, unser eigenes immanentes Gefühlsleben geht der künstlerische pwo_058.017 Eindruck an. Jndem sie uns „auf schwanker Leiter der Gefühle“ pwo_058.018 emporhebt, führt uns die Poesie über die Alltäglichkeit hinaus, pwo_058.019 stärkt unser Gefühlsleben, auf daß wir nicht im dumpfen Sinnentrieb pwo_058.020 verkommen, – pwo_058.021 „Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt, pwo_058.022 Die im Herzen wunderbar schliefen“, pwo_058.023 wie Schiller durchaus bezeichnend sagt. pwo_058.024 § 38. pwo_058.025 Die Gefühlsstärke des Dichters. pwo_058.026   Noch eine bedeutungsvolle Thatsache ist hier anzureihen: betreffend pwo_058.027 die allgemeine Gemütsbeschaffenheit des Künstlers, besonders des pwo_058.028 Dichters. Bestände sein Talent in bloßer Nachahmungsgabe, so hätte pwo_058.029 er kein Recht auf andere Beurteilung seines Gefühlslebens, als der pwo_058.030 übrigen Menschheit zugestanden wird. Bestände sein Talent gar in pwo_058.031 einer direkt erzieherischen Anlage, so bliebe noch weniger Veranlassung, pwo_058.032 die Leidenschaft der Dichterseele anzuerkennen. pwo_058.033   Anders, wenn verstärktes Gefühlsleben das Wesen des Dichters pwo_058.034 ausmacht. Dann verstehen wir den scheinbaren Widerspruch, daß er

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/72>, abgerufen am 26.11.2024.