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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Durch das Christentum wird zunächst der Sinn von der Natur pwo_047.002
abgezogen und zum Uebersinnlichen erhoben. Nicht ohne Einfluß pwo_047.003
lateinischer Dichtungen bricht der Natursinn wieder durch. Bei uns pwo_047.004
in Deutschland gewinnt diese Richtung der Poesie im 12. Jahrhundert pwo_047.005
eigentliche Ausdehnung. Als bezeichnend für den ritterlichen pwo_047.006
Geist damaliger Dichtung trat uns schon die Einführung gerade des pwo_047.007
Falken, des ritterlichen Jagdtiers, entgegen. Betrachten wir, nach pwo_047.008
welchen Richtungen dieses poetische Motiv gewendet wird. Der Kürnberger pwo_047.009
singt:

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"Ich zoch mir einen valken mere danne ein jar. pwo_047.011
do ich in gezamete, als ich in wolte han, pwo_047.012
und ich im sein gevidere mit golde wol bewant, pwo_047.013
er huob sich auf vil hohe und floug in anderiu lant."
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Aehnlich träumt im Nibelungenlied Kriemhild

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"in tugenden, der sie pflac, pwo_047.016
wie sie einen valken wilden züge manegen tac, pwo_047.017
den ir zwen arn erkrummen, daz si daz muoste sehen, pwo_047.018
ir erkunde in dirre werlde nimmer leider sein geschehen."
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Die Mutter vollendet ausdrücklich das Bild:

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"Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man: pwo_047.021
in welle got behüeten, du muost in schiere vloren han."
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Zu einem andern Bilde verwendet ihn Dietmar von Aist:

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"So wol dir valke daz du bist! pwo_047.024
du fliugest, swar dir lieb ist; pwo_047.025
du erkiusest dir in dem walde pwo_047.026
einen boum, der dir gevalle. pwo_047.027
Also han auch ich getan: pwo_047.028
ich erkos mir selben einen man ..."

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Weniger äußerlich verwendet Hartmann von Aue im "Erec" dasselbe pwo_047.030
Tier als Bild:

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"Do einz daz ander an sach, pwo_047.032
so was in beiden niht baz pwo_047.033
dann einem habech, der im sein maz pwo_047.034
von geschihten ze ougen bringet, pwo_047.035
so in der hunger twinget: pwo_047.036
und als ez im gezeiget wirt, pwo_047.037
swaz er's da für mere enbirt, pwo_047.038
da von muoz im wirs geschehen pwo_047.039
danne ob er's niht hete gesehen."
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  Durch das Christentum wird zunächst der Sinn von der Natur pwo_047.002
abgezogen und zum Uebersinnlichen erhoben. Nicht ohne Einfluß pwo_047.003
lateinischer Dichtungen bricht der Natursinn wieder durch. Bei uns pwo_047.004
in Deutschland gewinnt diese Richtung der Poesie im 12. Jahrhundert pwo_047.005
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singt:

pwo_047.010
Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. pwo_047.011
dô ich in gezamete, als ich in wolte hân, pwo_047.012
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Aehnlich träumt im Nibelungenlied Kriemhild

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 „in tugenden, der sie pflac, pwo_047.016
wie sie einen valken wilden züge manegen tac, pwo_047.017
den ir zwên arn erkrummen, daz si daz muoste sehen, pwo_047.018
ir erkunde in dirre werlde nimmer leider sîn geschehen.“
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Die Mutter vollendet ausdrücklich das Bild:

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Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man: pwo_047.021
in welle got behüeten, du muost in schiere vloren hân.“
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Zu einem andern Bilde verwendet ihn Dietmar von Aist:

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du fliugest, swar dir lieb ist; pwo_047.025
du erkiusest dir in dem walde pwo_047.026
einen boum, der dir gevalle. pwo_047.027
  Alsô hân auch ich getân: pwo_047.028
ich erkôs mir selben einen man ...“

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Weniger äußerlich verwendet Hartmann von Aue im „Erec“ dasselbe pwo_047.030
Tier als Bild:

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Dô einz daz ander an sach, pwo_047.032
sô was in beiden niht baz pwo_047.033
dann einem habech, der im sîn maz pwo_047.034
von geschihten ze ougen bringet, pwo_047.035
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[47/0061] pwo_047.001   Durch das Christentum wird zunächst der Sinn von der Natur pwo_047.002 abgezogen und zum Uebersinnlichen erhoben. Nicht ohne Einfluß pwo_047.003 lateinischer Dichtungen bricht der Natursinn wieder durch. Bei uns pwo_047.004 in Deutschland gewinnt diese Richtung der Poesie im 12. Jahrhundert pwo_047.005 eigentliche Ausdehnung. Als bezeichnend für den ritterlichen pwo_047.006 Geist damaliger Dichtung trat uns schon die Einführung gerade des pwo_047.007 Falken, des ritterlichen Jagdtiers, entgegen. Betrachten wir, nach pwo_047.008 welchen Richtungen dieses poetische Motiv gewendet wird. Der Kürnberger pwo_047.009 singt: pwo_047.010 „Ich zôch mir einen valken mêre danne ein jâr. pwo_047.011 dô ich in gezamete, als ich in wolte hân, pwo_047.012 und ich im sîn gevidere mit golde wol bewant, pwo_047.013 er huob sich ûf vil hôhe und floug in anderiu lant.“ pwo_047.014 Aehnlich träumt im Nibelungenlied Kriemhild pwo_047.015  „in tugenden, der sie pflac, pwo_047.016 wie sie einen valken wilden züge manegen tac, pwo_047.017 den ir zwên arn erkrummen, daz si daz muoste sehen, pwo_047.018 ir erkunde in dirre werlde nimmer leider sîn geschehen.“ pwo_047.019 Die Mutter vollendet ausdrücklich das Bild: pwo_047.020 „Der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man: pwo_047.021 in welle got behüeten, du muost in schiere vloren hân.“ pwo_047.022 Zu einem andern Bilde verwendet ihn Dietmar von Aist: pwo_047.023 „Sô wol dir valke daz du bist! pwo_047.024 du fliugest, swar dir lieb ist; pwo_047.025 du erkiusest dir in dem walde pwo_047.026 einen boum, der dir gevalle. pwo_047.027   Alsô hân auch ich getân: pwo_047.028 ich erkôs mir selben einen man ...“ pwo_047.029 Weniger äußerlich verwendet Hartmann von Aue im „Erec“ dasselbe pwo_047.030 Tier als Bild: pwo_047.031 „Dô einz daz ander an sach, pwo_047.032 sô was in beiden niht baz pwo_047.033 dann einem habech, der im sîn maz pwo_047.034 von geschihten ze ougen bringet, pwo_047.035 sô in der hunger twinget: pwo_047.036 und als ez im gezeiget wirt, pwo_047.037 swaz er's dâ für mêre enbirt, pwo_047.038 dâ von muoz im wirs geschehen pwo_047.039 danne ob er's niht hete gesehen.“

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/61>, abgerufen am 26.11.2024.