Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_044.001

Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur pwo_044.002
der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung pwo_044.003
dieses poetischen Stilmittels:

pwo_044.004

"Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund, pwo_044.005
aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher pwo_044.006
Wehmut deckte ihre vornehmen Züge. Jch ergriff pwo_044.007
ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre pwo_044.008
schmalen Finger drückten die meinen mit einem krampfhaften pwo_044.009
Druck."

pwo_044.010

Die "schmalen Finger" gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit. pwo_044.011
Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine pwo_044.012
Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung. pwo_044.013
Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in pwo_044.014
Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist:

pwo_044.015

"Als sie oben auf der Bühne stand,"

pwo_044.016

philosophiert er über die weibliche Hauptfigur,

pwo_044.017

"war wenigstens ein Schatten äußerer Vornehmheit vorhanden. pwo_044.018
Jetzt - ... mir gegenüberhockend - ... o jetzt pwo_044.019
fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung."

pwo_044.020
pwo_044.021

Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird pwo_044.022
dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein pwo_044.023
Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg.

pwo_044.024

So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch pwo_044.025
außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen, pwo_044.026
die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden pwo_044.027
werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave pwo_044.028
zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl.

pwo_044.029
§ 30. pwo_044.030
Die Natur als Anschauung und Sinnbild.
pwo_044.031

Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang pwo_044.032
der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich- pwo_044.033
Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen

pwo_044.001

  Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur pwo_044.002
der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung pwo_044.003
dieses poetischen Stilmittels:

pwo_044.004

„Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund, pwo_044.005
aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher pwo_044.006
Wehmut deckte ihre vornehmen Züge. Jch ergriff pwo_044.007
ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre pwo_044.008
schmalen Finger drückten die meinen mit einem krampfhaften pwo_044.009
Druck.“

pwo_044.010

Die „schmalen Finger“ gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit. pwo_044.011
Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine pwo_044.012
Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung. pwo_044.013
Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in pwo_044.014
Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist:

pwo_044.015

„Als sie oben auf der Bühne stand,“

pwo_044.016

philosophiert er über die weibliche Hauptfigur,

pwo_044.017

„war wenigstens ein Schatten äußerer Vornehmheit vorhanden. pwo_044.018
Jetzt – ... mir gegenüberhockend – ... o jetzt pwo_044.019
fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung.“

pwo_044.020
pwo_044.021

Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird pwo_044.022
dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein pwo_044.023
Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg.

pwo_044.024

  So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch pwo_044.025
außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen, pwo_044.026
die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden pwo_044.027
werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave pwo_044.028
zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl.

pwo_044.029
§ 30. pwo_044.030
Die Natur als Anschauung und Sinnbild.
pwo_044.031

  Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang pwo_044.032
der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich- pwo_044.033
Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0058" n="44"/>
            <lb n="pwo_044.001"/>
            <p>  Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur <lb n="pwo_044.002"/>
der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung <lb n="pwo_044.003"/>
dieses poetischen Stilmittels:</p>
            <lb n="pwo_044.004"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund, <lb n="pwo_044.005"/>
aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher <lb n="pwo_044.006"/>
Wehmut deckte ihre <hi rendition="#g">vornehmen</hi> Züge. Jch ergriff <lb n="pwo_044.007"/>
ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre <lb n="pwo_044.008"/> <hi rendition="#g">schmalen Finger</hi> drückten die meinen mit einem krampfhaften <lb n="pwo_044.009"/>
Druck.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_044.010"/>
            <p>Die &#x201E;schmalen Finger&#x201C; gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit. <lb n="pwo_044.011"/>
Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine <lb n="pwo_044.012"/>
Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung. <lb n="pwo_044.013"/>
Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in <lb n="pwo_044.014"/>
Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist:</p>
            <lb n="pwo_044.015"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Als sie <hi rendition="#g">oben</hi> auf der Bühne stand,&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_044.016"/>
            <p>philosophiert er über die weibliche Hauptfigur,</p>
            <lb n="pwo_044.017"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;war wenigstens ein Schatten äußerer <hi rendition="#g">Vornehmheit</hi> vorhanden. <lb n="pwo_044.018"/>
Jetzt &#x2013; ... mir gegenüberhockend &#x2013; ... o jetzt <lb n="pwo_044.019"/>
fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_044.020"/>
            <lb n="pwo_044.021"/>
            <p>Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird <lb n="pwo_044.022"/>
dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein <lb n="pwo_044.023"/>
Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg.</p>
            <lb n="pwo_044.024"/>
            <p>  So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch <lb n="pwo_044.025"/>
außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen, <lb n="pwo_044.026"/>
die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden <lb n="pwo_044.027"/>
werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave <lb n="pwo_044.028"/>
zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_044.029"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 30. <lb n="pwo_044.030"/>
Die Natur als Anschauung und Sinnbild.</hi> </head>
            <lb n="pwo_044.031"/>
            <p>  Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang <lb n="pwo_044.032"/>
der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich- <lb n="pwo_044.033"/>
Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0058] pwo_044.001   Zum Schluß bietet uns abermals die naturalistische Litteratur pwo_044.002 der letzten Jahrzehnte reichlich Proben für die allgemeine Verbreitung pwo_044.003 dieses poetischen Stilmittels: pwo_044.004 „Anfangs umzüngelte das moquante Lächeln den süßen Mund, pwo_044.005 aber es schwand gänzlich, und ein plötzlicher Schatten unsäglicher pwo_044.006 Wehmut deckte ihre vornehmen Züge. Jch ergriff pwo_044.007 ihre Hand und preßte sie lange an meine Lippen: ihre pwo_044.008 schmalen Finger drückten die meinen mit einem krampfhaften pwo_044.009 Druck.“ pwo_044.010 Die „schmalen Finger“ gelten ebenfalls für ein Zeichen der Vornehmheit. pwo_044.011 Karl Bleibtreu ist es, der diese Zeilen schrieb, und seine pwo_044.012 Heldin ist alles eher als vornehm von Gesinnung oder Stellung. pwo_044.013 Ja, der Dichter läßt seinen Helden zur Aussprache bringen, was in pwo_044.014 Wahrheit das Wesen unserer poetischen Figur ist: pwo_044.015 „Als sie oben auf der Bühne stand,“ pwo_044.016 philosophiert er über die weibliche Hauptfigur, pwo_044.017 „war wenigstens ein Schatten äußerer Vornehmheit vorhanden. pwo_044.018 Jetzt – ... mir gegenüberhockend – ... o jetzt pwo_044.019 fühle ich einen peinigenden Schmerz bei dieser ihrer Demütigung.“ pwo_044.020 pwo_044.021 Also selbst das rein äußerliche Höherstehen auf dem Podium wird pwo_044.022 dem gehobenen Gefühl der Liebe als entsprechend empfunden, ein pwo_044.023 Stehen auf gleicher Stufe nimmt den poetischen Reiz hinweg. pwo_044.024   So schwelgt denn die Sprache des gehobenen Gefühls auch pwo_044.025 außerhalb der eigentlichen Dichtung in heroomorphischen Vorstellungen, pwo_044.026 die von uns zum größeren Teil ausdrücklich als poetisch empfunden pwo_044.027 werden, so sehr sie sich auch abschleifen: Herzenskönigin, als Sklave pwo_044.028 zu ihren Füßen, Schatz, goldenes Lieb, majestätische Gestalt u. dergl. pwo_044.029 § 30. pwo_044.030 Die Natur als Anschauung und Sinnbild. pwo_044.031   Es ist ein in geschichtlicher Zeit meist klar verfolgbarer Gang pwo_044.032 der Entwicklung: vom Göttlichen durch das Heroische zum Menschlich- pwo_044.033 Bürgerlichen. Besonders auch die Stoffe des Dramas unterliegen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/58
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/58>, abgerufen am 23.11.2024.