Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_038.001 "Wen dünkten Worte nicht zu arm und schal, pwo_038.002 pwo_038.003Zu bannen fest der Schönheit Himmelsstrahl?" Selbst in seinem so unheiligen Don Juan singt er: pwo_038.004"Sie liebte, ja, sie betete ihn an, - pwo_038.005 pwo_038.006Sie ward geliebt, als Heilige verehrt" (im Original "worshipped"). Auch hier greift, wo jedes menschliche pwo_038.007 Die letzten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Stilmittels pwo_038.010 "Der reinsten Stirne pwo_038.016 pwo_038.021Götterlinien trügen, pwo_038.017 Süßester Rehaugen pwo_038.018 Madonnenstrahlen lügen! pwo_038.019 Fremd bleibt dem Weib pwo_038.020 Des Künstlers Himmelsstreben." Das erste Lied selbst beginnt: pwo_038.022"Du bist so stolz und rein, pwo_038.023 pwo_038.026Du lilienblasse Maid, pwo_038.024 Dich küßte in der Wiege pwo_038.025 Des Himmels Herrlichkeit." Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von pwo_038.027 "Mein flammend Herz - das ist ein Tabernakel: pwo_038.030 pwo_038.033Zu Weihrauch dort verbrennen deine Mängel. pwo_038.031 Und aus der Flamme steigst du ohne Makel, pwo_038.032 Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein Engel." Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht, pwo_038.034 pwo_038.001 „Wen dünkten Worte nicht zu arm und schal, pwo_038.002 pwo_038.003Zu bannen fest der Schönheit Himmelsstrahl?“ Selbst in seinem so unheiligen Don Juan singt er: pwo_038.004„Sie liebte, ja, sie betete ihn an, – pwo_038.005 pwo_038.006Sie ward geliebt, als Heilige verehrt“ (im Original „worshipped“). Auch hier greift, wo jedes menschliche pwo_038.007 Die letzten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Stilmittels pwo_038.010 „Der reinsten Stirne pwo_038.016 pwo_038.021Götterlinien trügen, pwo_038.017 Süßester Rehaugen pwo_038.018 Madonnenstrahlen lügen! pwo_038.019 Fremd bleibt dem Weib pwo_038.020 Des Künstlers Himmelsstreben.“ Das erste Lied selbst beginnt: pwo_038.022„Du bist so stolz und rein, pwo_038.023 pwo_038.026Du lilienblasse Maid, pwo_038.024 Dich küßte in der Wiege pwo_038.025 Des Himmels Herrlichkeit.“ Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von pwo_038.027 „Mein flammend Herz – das ist ein Tabernakel: pwo_038.030 pwo_038.033Zu Weihrauch dort verbrennen deine Mängel. pwo_038.031 Und aus der Flamme steigst du ohne Makel, pwo_038.032 Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein Engel.“ Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht, pwo_038.034 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0052" n="38"/> <lb n="pwo_038.001"/> <lg> <l>„Wen dünkten Worte nicht zu arm und schal,</l> <lb n="pwo_038.002"/> <l>Zu bannen fest der Schönheit <hi rendition="#g">Himmelsstrahl</hi>?“</l> </lg> <lb n="pwo_038.003"/> <p>Selbst in seinem so unheiligen Don Juan singt er:</p> <lb n="pwo_038.004"/> <lg> <l>„Sie liebte, ja, sie <hi rendition="#g">betete ihn an,</hi> –</l> <lb n="pwo_038.005"/> <l>Sie ward geliebt, <hi rendition="#g">als Heilige verehrt</hi>“</l> </lg> <lb n="pwo_038.006"/> <p>(im Original „<hi rendition="#aq">worshipped</hi>“). 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So hebt ein Vorkämpfer <lb n="pwo_038.014"/> dieser Richtung, Wilhelm Arent, gleich im Prolog seiner Lieder an:</p> <lb n="pwo_038.015"/> <lg> <l>„Der reinsten Stirne</l> <lb n="pwo_038.016"/> <l><hi rendition="#g">Götterlinien</hi> trügen,</l> <lb n="pwo_038.017"/> <l>Süßester Rehaugen</l> <lb n="pwo_038.018"/> <l><hi rendition="#g">Madonnenstrahlen</hi> lügen!</l> <lb n="pwo_038.019"/> <l>Fremd bleibt dem Weib</l> <lb n="pwo_038.020"/> <l>Des Künstlers <hi rendition="#g">Himmelsstreben</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_038.021"/> <p>Das erste Lied selbst beginnt:</p> <lb n="pwo_038.022"/> <lg> <l>„Du bist so stolz und rein,</l> <lb n="pwo_038.023"/> <l>Du lilienblasse Maid,</l> <lb n="pwo_038.024"/> <l>Dich küßte in der Wiege</l> <lb n="pwo_038.025"/> <l>Des <hi rendition="#g">Himmels</hi> Herrlichkeit.“</l> </lg> <lb n="pwo_038.026"/> <p>Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von <lb n="pwo_038.027"/> ihrem Liebhaber als „<hi rendition="#g">Göttin</hi> und <hi rendition="#g">Jdol</hi>“ feiern, ja ihr die Verse <lb n="pwo_038.028"/> widmen:</p> <lb n="pwo_038.029"/> <lg> <l>„Mein flammend Herz – das ist ein Tabernakel:</l> <lb n="pwo_038.030"/> <l>Zu <hi rendition="#g">Weihrauch</hi> dort verbrennen deine Mängel.</l> <lb n="pwo_038.031"/> <l>Und aus der Flamme steigst du ohne Makel,</l> <lb n="pwo_038.032"/> <l>Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein <hi rendition="#g">Engel</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_038.033"/> <p> Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht, <lb n="pwo_038.034"/> wird recht augenscheinlich, wie weit diese Vorstellungen selbst in die <lb n="pwo_038.035"/> Alltagssprache eingedrungen sind, wo immer sie nach dem Ausdruck <lb n="pwo_038.036"/> gehobener Gefühle ringt. 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Zu bannen fest der Schönheit Himmelsstrahl?“
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Sie ward geliebt, als Heilige verehrt“
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(im Original „worshipped“). Auch hier greift, wo jedes menschliche pwo_038.007
Maß zu schwinden beginnt, der Dichter zur Vergöttlichung seiner pwo_038.008
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Die letzten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Stilmittels pwo_038.010
zerstreut ein Hinblick auf die neueste naturalistische Dichtung. pwo_038.011
Obgleich diese sich geneigt zeigt, möglichst alles Geistige auf physische pwo_038.012
Ursachen zurückzuführen, flutet sie wie jede andere Poesie von Vorstellungen pwo_038.013
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dieser Richtung, Wilhelm Arent, gleich im Prolog seiner Lieder an:
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Ein anderer, Karl Bleibtreu, läßt ein verworfenes Geschöpf von pwo_038.027
ihrem Liebhaber als „Göttin und Jdol“ feiern, ja ihr die Verse pwo_038.028
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„Mein flammend Herz – das ist ein Tabernakel: pwo_038.030
Zu Weihrauch dort verbrennen deine Mängel. pwo_038.031
Und aus der Flamme steigst du ohne Makel, pwo_038.032
Ein Phönix neuverjüngt, rein wie ein Engel.“
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Hier, wo sonst die Sprache der prosaischsten Prosa herrscht, pwo_038.034
wird recht augenscheinlich, wie weit diese Vorstellungen selbst in die pwo_038.035
Alltagssprache eingedrungen sind, wo immer sie nach dem Ausdruck pwo_038.036
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Zitationshilfe: | Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/52>, abgerufen am 16.02.2025. |