Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_037.001 Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller "Die pwo_037.004 "So rafft von jeder eiteln Bürde, pwo_037.006 pwo_037.013Wenn des Gesanges Ruf erschallt, pwo_037.007 Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pwo_037.008 Und tritt in heilige Gewalt; pwo_037.009 Den hohen Göttern ist er eigen, pwo_037.010 Jhm darf nichts Jrdisches sich nahn, pwo_037.011 Und jede andre Macht muß schweigen, pwo_037.012 Und kein Verhängnis fällt ihn an." Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse pwo_037.014 Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen pwo_037.018 "Der Tempel ist euch aufgebaut, pwo_037.020 pwo_037.023Jhr hohen Musen all, pwo_037.021 Und hier in meinem Herzen ist pwo_037.022 Das Allerheiligste." Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er "Liebchens Kammer", pwo_037.024 "Willkommen, süßer Dämmerschein, pwo_037.026 pwo_037.031Der du dies Heiligtum durchwebst! ... pwo_037.027 Jn dieser Armut welche Fülle, pwo_037.028 Jn diesem Kerker welche Seligkeit! ... pwo_037.029 O liebe Hand! so göttergleich! pwo_037.030 Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich." Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang pwo_037.032 "Und hier mit heilig reinem Weben pwo_037.034 pwo_037.035Entwirkte sich das Götterbild." Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser pwo_037.036 pwo_037.001 Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller „Die pwo_037.004 „So rafft von jeder eiteln Bürde, pwo_037.006 pwo_037.013Wenn des Gesanges Ruf erschallt, pwo_037.007 Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pwo_037.008 Und tritt in heilige Gewalt; pwo_037.009 Den hohen Göttern ist er eigen, pwo_037.010 Jhm darf nichts Jrdisches sich nahn, pwo_037.011 Und jede andre Macht muß schweigen, pwo_037.012 Und kein Verhängnis fällt ihn an.“ Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse pwo_037.014 Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen pwo_037.018 „Der Tempel ist euch aufgebaut, pwo_037.020 pwo_037.023Jhr hohen Musen all, pwo_037.021 Und hier in meinem Herzen ist pwo_037.022 Das Allerheiligste.“ Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er „Liebchens Kammer“, pwo_037.024 „Willkommen, süßer Dämmerschein, pwo_037.026 pwo_037.031Der du dies Heiligtum durchwebst! ... pwo_037.027 Jn dieser Armut welche Fülle, pwo_037.028 Jn diesem Kerker welche Seligkeit! ... pwo_037.029 O liebe Hand! so göttergleich! pwo_037.030 Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.“ Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang pwo_037.032 „Und hier mit heilig reinem Weben pwo_037.034 pwo_037.035Entwirkte sich das Götterbild.“ Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser pwo_037.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0051" n="37"/><lb n="pwo_037.001"/> andre moderne Dichter haben dieselbe Gottheit zu ähnlichem Zwecke <lb n="pwo_037.002"/> bemüht.</p> <lb n="pwo_037.003"/> <p> Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller „Die <lb n="pwo_037.004"/> Macht des Gesanges“ ausdrücklich als religiös schildert:</p> <lb n="pwo_037.005"/> <lg> <l>„So rafft von jeder eiteln Bürde,</l> <lb n="pwo_037.006"/> <l>Wenn des Gesanges Ruf erschallt,</l> <lb n="pwo_037.007"/> <l>Der Mensch sich auf zur Geisterwürde</l> <lb n="pwo_037.008"/> <l>Und tritt in <hi rendition="#g">heilige Gewalt;</hi></l> <lb n="pwo_037.009"/> <l> <hi rendition="#g">Den hohen Göttern ist er eigen,</hi> </l> <lb n="pwo_037.010"/> <l>Jhm darf <hi rendition="#g">nichts Jrdisches</hi> sich nahn,</l> <lb n="pwo_037.011"/> <l>Und jede andre Macht muß schweigen,</l> <lb n="pwo_037.012"/> <l>Und kein Verhängnis fällt ihn an.“</l> </lg> <lb n="pwo_037.013"/> <p>Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse <lb n="pwo_037.014"/> Gefühle zu Tendenzzwecken geheuchelt haben, müssen sie in Ausübung <lb n="pwo_037.015"/> der Dichtkunst wirklich etwas empfunden haben, das <hi rendition="#g">dem <lb n="pwo_037.016"/> religiösen Gefühl nahe kommt.</hi></p> <lb n="pwo_037.017"/> <p> Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen <lb n="pwo_037.018"/> heranzieht, kleidet gerade „Künstlers Morgenlied“ in religiöse Bilder:</p> <lb n="pwo_037.019"/> <lg> <l>„Der <hi rendition="#g">Tempel</hi> ist euch aufgebaut,</l> <lb n="pwo_037.020"/> <l>Jhr hohen Musen all,</l> <lb n="pwo_037.021"/> <l>Und hier in meinem Herzen ist</l> <lb n="pwo_037.022"/> <l>Das <hi rendition="#g">Allerheiligste</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_037.023"/> <p>Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er „Liebchens Kammer“, <lb n="pwo_037.024"/> wahrlich nicht in heiliger Absicht, betritt:</p> <lb n="pwo_037.025"/> <lg> <l>„Willkommen, süßer Dämmerschein,</l> <lb n="pwo_037.026"/> <l>Der du dies <hi rendition="#g">Heiligtum</hi> durchwebst! ...</l> <lb n="pwo_037.027"/> <l>Jn dieser Armut welche Fülle,</l> <lb n="pwo_037.028"/> <l>Jn diesem <hi rendition="#g">Kerker</hi> welche <hi rendition="#g">Seligkeit!</hi> ...</l> <lb n="pwo_037.029"/> <l>O liebe Hand! so <hi rendition="#g">göttergleich!</hi></l> <lb n="pwo_037.030"/> <l>Die <hi rendition="#g">Hütte</hi> wird durch dich ein <hi rendition="#g">Himmelreich</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_037.031"/> <p>Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang <lb n="pwo_037.032"/> hebt er, indem er sinnt:</p> <lb n="pwo_037.033"/> <lg> <l>„Und hier mit <hi rendition="#g">heilig</hi> reinem Weben</l> <lb n="pwo_037.034"/> <l>Entwirkte sich das <hi rendition="#g">Götterbild</hi>.“</l> </lg> <lb n="pwo_037.035"/> <p>Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser <lb n="pwo_037.036"/> Drang treibt ihn wahrlich nicht, wenn er in der „Braut von Abydos“ <lb n="pwo_037.037"/> singt:</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [37/0051]
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andre moderne Dichter haben dieselbe Gottheit zu ähnlichem Zwecke pwo_037.002
bemüht.
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Größeres Gewicht ist darauf zu legen, daß ein Schiller „Die pwo_037.004
Macht des Gesanges“ ausdrücklich als religiös schildert:
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„So rafft von jeder eiteln Bürde, pwo_037.006
Wenn des Gesanges Ruf erschallt, pwo_037.007
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde pwo_037.008
Und tritt in heilige Gewalt; pwo_037.009
Den hohen Göttern ist er eigen, pwo_037.010
Jhm darf nichts Jrdisches sich nahn, pwo_037.011
Und jede andre Macht muß schweigen, pwo_037.012
Und kein Verhängnis fällt ihn an.“
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Da doch weder Schiller noch die früher herangezogenen Dichter religiöse pwo_037.014
Gefühle zu Tendenzzwecken geheuchelt haben, müssen sie in Ausübung pwo_037.015
der Dichtkunst wirklich etwas empfunden haben, das dem pwo_037.016
religiösen Gefühl nahe kommt.
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Auch Goethe, der gewiß nicht geflissentlich kirchliche Wendungen pwo_037.018
heranzieht, kleidet gerade „Künstlers Morgenlied“ in religiöse Bilder:
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„Der Tempel ist euch aufgebaut, pwo_037.020
Jhr hohen Musen all, pwo_037.021
Und hier in meinem Herzen ist pwo_037.022
Das Allerheiligste.“
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Nicht anders spricht selbst sein Faust, als er „Liebchens Kammer“, pwo_037.024
wahrlich nicht in heiliger Absicht, betritt:
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„Willkommen, süßer Dämmerschein, pwo_037.026
Der du dies Heiligtum durchwebst! ... pwo_037.027
Jn dieser Armut welche Fülle, pwo_037.028
Jn diesem Kerker welche Seligkeit! ... pwo_037.029
O liebe Hand! so göttergleich! pwo_037.030
Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.“
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Nicht den Schleier von einem Götterbild, sondern Liebchens Bettvorhang pwo_037.032
hebt er, indem er sinnt:
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„Und hier mit heilig reinem Weben pwo_037.034
Entwirkte sich das Götterbild.“
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Schließlich, wenn einer ketzerisch auftritt, so ist es Byron; religiöser pwo_037.036
Drang treibt ihn wahrlich nicht, wenn er in der „Braut von Abydos“ pwo_037.037
singt:
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Zitationshilfe: | Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/51>, abgerufen am 16.02.2025. |