Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_031.001 All diese Sänger bekennen also, daß ihnen "ein Gott gab, zu sagen", pwo_031.002 Nicht anders setzt die Edda ein. "Der Seherin Weissagung" lautet: pwo_031.004"Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, pwo_031.005 pwo_031.008Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern; pwo_031.006 Walvater wünscht es, so will ich erzählen pwo_031.007 Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung." "Der Seherin Weissagung"! Wie in den Propheten des alten Bundes pwo_031.009 Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint pwo_031.018 "Aegir fragte: ,Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' pwo_031.023 pwo_031.001 All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein Gott gab, zu sagen“, pwo_031.002 Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet: pwo_031.004„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, pwo_031.005 pwo_031.008Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern; pwo_031.006 Walvater wünscht es, so will ich erzählen pwo_031.007 Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“ „Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes pwo_031.009 Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint pwo_031.018 „Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' pwo_031.023 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0045" n="31"/> <lb n="pwo_031.001"/> <p>All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein <hi rendition="#g">Gott</hi> gab, zu sagen“, <lb n="pwo_031.002"/> was sie empfinden.</p> <lb n="pwo_031.003"/> <p> Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet:</p> <lb n="pwo_031.004"/> <lg> <l>„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern,</l> <lb n="pwo_031.005"/> <l>Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern;</l> <lb n="pwo_031.006"/> <l><hi rendition="#g">Walvater wünscht es,</hi> so will ich erzählen</l> <lb n="pwo_031.007"/> <l>Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“</l> </lg> <lb n="pwo_031.008"/> <p>„Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes <lb n="pwo_031.009"/> sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt: <lb n="pwo_031.010"/> Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist <lb n="pwo_031.011"/> für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der <lb n="pwo_031.012"/> Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt <lb n="pwo_031.013"/> Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die <lb n="pwo_031.014"/> Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott, <lb n="pwo_031.015"/> und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres <lb n="pwo_031.016"/> Geschlechtes.“</p> <lb n="pwo_031.017"/> <p> Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint <lb n="pwo_031.018"/> die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie <lb n="pwo_031.019"/> erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt. <lb n="pwo_031.020"/> Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte <lb n="pwo_031.021"/> Snorra Edda:</p> <lb n="pwo_031.022"/> <p> <hi rendition="#et">„Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' <lb n="pwo_031.023"/> Bragi antwortete: ‚Die Götter hatten eine Fehde mit den <lb n="pwo_031.024"/> Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu <lb n="pwo_031.025"/> schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel <lb n="pwo_031.026"/> hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. <lb n="pwo_031.027"/> wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat. <lb n="pwo_031.028"/> Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. <lb n="pwo_031.029"/> Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen <lb n="pwo_031.030"/> Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein <lb n="pwo_031.031"/> Blut in zwei Krüge und einen Kessel rinnen. Danach mischten <lb n="pwo_031.032"/> sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem <lb n="pwo_031.033"/> Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und <lb n="pwo_031.034"/> ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das <lb n="pwo_031.035"/> Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand </hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [31/0045]
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All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein Gott gab, zu sagen“, pwo_031.002
was sie empfinden.
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Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet:
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„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, pwo_031.005
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Walvater wünscht es, so will ich erzählen pwo_031.007
Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“
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„Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes pwo_031.009
sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt: pwo_031.010
Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist pwo_031.011
für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der pwo_031.012
Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt pwo_031.013
Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die pwo_031.014
Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott, pwo_031.015
und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres pwo_031.016
Geschlechtes.“
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Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint pwo_031.018
die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie pwo_031.019
erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt. pwo_031.020
Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte pwo_031.021
Snorra Edda:
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„Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' pwo_031.023
Bragi antwortete: ‚Die Götter hatten eine Fehde mit den pwo_031.024
Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu pwo_031.025
schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel pwo_031.026
hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. pwo_031.027
wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat. pwo_031.028
Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. pwo_031.029
Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen pwo_031.030
Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein pwo_031.031
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sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem pwo_031.033
Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und pwo_031.034
ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das pwo_031.035
Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand
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