Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_019.001 stöhnt der eine (Justinus Kerner), pwo_019.002"Und singend einst und jubelnd pwo_019.003 pwo_019.006Durchs alte Erdenhaus pwo_019.004 Zieht als der letzte Dichter pwo_019.005 Der letzte Mensch hinaus" - jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: pwo_019.007 Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund pwo_019.013 Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der pwo_019.021 Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt pwo_019.032 pwo_019.001 stöhnt der eine (Justinus Kerner), pwo_019.002„Und singend einst und jubelnd pwo_019.003 pwo_019.006Durchs alte Erdenhaus pwo_019.004 Zieht als der letzte Dichter pwo_019.005 Der letzte Mensch hinaus“ – jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: pwo_019.007 Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund pwo_019.013 Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der pwo_019.021 Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt pwo_019.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0033" n="19"/> <lb n="pwo_019.001"/> <p>stöhnt der eine (Justinus Kerner),</p> <lb n="pwo_019.002"/> <lg> <l>„Und singend einst und <hi rendition="#g">jubelnd</hi></l> <lb n="pwo_019.003"/> <l>Durchs alte Erdenhaus</l> <lb n="pwo_019.004"/> <l>Zieht als der letzte Dichter</l> <lb n="pwo_019.005"/> <l>Der letzte Mensch hinaus“ –</l> </lg> <lb n="pwo_019.006"/> <p>jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: <lb n="pwo_019.007"/> „Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die <lb n="pwo_019.008"/> Wirklichkeit angeregt“, – dissentiert Schiller: „Jch glaube, es ist <lb n="pwo_019.009"/> nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur <lb n="pwo_019.010"/> ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung <lb n="pwo_019.011"/> strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt“.</p> <lb n="pwo_019.012"/> <p> Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund <lb n="pwo_019.013"/> subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters <lb n="pwo_019.014"/> selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig <lb n="pwo_019.015"/> hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte <lb n="pwo_019.016"/> Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des <lb n="pwo_019.017"/> echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos; <lb n="pwo_019.018"/> sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung <lb n="pwo_019.019"/> nicht völlig gesichert.</p> <lb n="pwo_019.020"/> <p> Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der <lb n="pwo_019.021"/> betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher <lb n="pwo_019.022"/> Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald <lb n="pwo_019.023"/> auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse <lb n="pwo_019.024"/> dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes <lb n="pwo_019.025"/> Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene <lb n="pwo_019.026"/> Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von <lb n="pwo_019.027"/> Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto <lb n="pwo_019.028"/> Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, – Auslassungen, die <lb n="pwo_019.029"/> sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß <lb n="pwo_019.030"/> geben sollen.</p> <lb n="pwo_019.031"/> <p> Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt <lb n="pwo_019.032"/> beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade <lb n="pwo_019.033"/> erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung <lb n="pwo_019.034"/> kritisch beleuchtet wird.</p> <lb n="pwo_019.035"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0033]
pwo_019.001
stöhnt der eine (Justinus Kerner),
pwo_019.002
„Und singend einst und jubelnd pwo_019.003
Durchs alte Erdenhaus pwo_019.004
Zieht als der letzte Dichter pwo_019.005
Der letzte Mensch hinaus“ –
pwo_019.006
jauchzt der andere (Anastasius Grün). Während Goethe bekennt: pwo_019.007
„Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die pwo_019.008
Wirklichkeit angeregt“, – dissentiert Schiller: „Jch glaube, es ist pwo_019.009
nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffs, sondern oft nur pwo_019.010
ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang nach Ergießung pwo_019.011
strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt“.
pwo_019.012
Es leuchtet zunächst ein, daß all solche Geständnisse aus Dichtermund pwo_019.013
subjektiv gefärbt sind. Weit entfernt, daß ein Urteil des Dichters pwo_019.014
selbst über die Dichtkunst ohne weiteres als objektiv beweiskräftig pwo_019.015
hinzunehmen ist, kann es nicht einmal für seine eigene Dichtung unbedingte pwo_019.016
Zuverlässigkeit in Anspruch nehmen. Denn das Schaffen des pwo_019.017
echten Künstlers geschieht immer bis zu einem gewissen Grade reflexionslos; pwo_019.018
sobald er darüber reflektiert, ist er also vor einer Selbsttäuschung pwo_019.019
nicht völlig gesichert.
pwo_019.020
Außerdem tragen solche Aeußerungen, wenn anders nicht der pwo_019.021
betreffende Dichter ausdrücklich Untersuchungen von wissenschaftlicher pwo_019.022
Beweiskraft anstrebt, gelegentlichen Charakter und erstrecken sich bald pwo_019.023
auf diese, bald auf jene zufällige Einzelheit. So betreffen Zeugnisse pwo_019.024
dieser Art, wie sie z. B. Wilhelm Dilthey zusammenrückt: Goethes pwo_019.025
Erfahrung, wenn er an eine Blume dachte, Schillers soeben herausgehobene pwo_019.026
Aeußerung über unbestimmte Gefühle, Geständnisse von pwo_019.027
Alfieri und Heinrich von Kleist über musikalische Empfindungen, Otto pwo_019.028
Ludwigs Beschreibung von Farbenerscheinungen, – Auslassungen, die pwo_019.029
sämtlich über den Ausgangspunkt der dichterischen Produktion Aufschluß pwo_019.030
geben sollen.
pwo_019.031
Es erhellt, daß auch sie nur als nach Zeit, Ort und Subjekt pwo_019.032
beschränkte Teile des umfassenden Materials dienen können und gerade pwo_019.033
erst im Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung ihre Bedeutung pwo_019.034
kritisch beleuchtet wird.
pwo_019.035
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |