Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_018.001
Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung, pwo_018.002
deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem pwo_018.003
von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge pwo_018.004
opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen. pwo_018.005
Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen, pwo_018.006
das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich pwo_018.007
poetische Wirkung stört.

pwo_018.008

Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings pwo_018.009
am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ, pwo_018.010
indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem pwo_018.011
nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen pwo_018.012
Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv, pwo_018.013
indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein, pwo_018.014
dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck pwo_018.015
bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die pwo_018.016
Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt.

pwo_018.017

Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt, pwo_018.018
die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form pwo_018.019
und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab pwo_018.020
ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die pwo_018.021
Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne pwo_018.022
zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu pwo_018.023
gewinnen.

pwo_018.024
§ 16. pwo_018.025
Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie.
pwo_018.026

Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine pwo_018.027
sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen pwo_018.028
der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern pwo_018.029
selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf pwo_018.030
solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt.

pwo_018.031

Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch pwo_018.032
hier entgegen.

pwo_018.033
"Poesie ist tiefes Schmerzen, pwo_018.034
Und es kommt das echte Lied pwo_018.035
Einzig aus dem Menschenherzen, pwo_018.036
Das ein heißes Weh durchglüht" -

pwo_018.001
Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung, pwo_018.002
deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem pwo_018.003
von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge pwo_018.004
opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen. pwo_018.005
Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen, pwo_018.006
das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich pwo_018.007
poetische Wirkung stört.

pwo_018.008

  Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings pwo_018.009
am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ, pwo_018.010
indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem pwo_018.011
nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen pwo_018.012
Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv, pwo_018.013
indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein, pwo_018.014
dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck pwo_018.015
bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die pwo_018.016
Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt.

pwo_018.017

  Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt, pwo_018.018
die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form pwo_018.019
und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab pwo_018.020
ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die pwo_018.021
Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne pwo_018.022
zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu pwo_018.023
gewinnen.

pwo_018.024
§ 16. pwo_018.025
Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie.
pwo_018.026

  Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine pwo_018.027
sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen pwo_018.028
der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern pwo_018.029
selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf pwo_018.030
solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt.

pwo_018.031

  Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch pwo_018.032
hier entgegen.

pwo_018.033
„Poesie ist tiefes Schmerzen, pwo_018.034
Und es kommt das echte Lied pwo_018.035
Einzig aus dem Menschenherzen, pwo_018.036
Das ein heißes Weh durchglüht“ –
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0032" n="18"/><lb n="pwo_018.001"/>
Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung, <lb n="pwo_018.002"/>
deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem <lb n="pwo_018.003"/>
von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge <lb n="pwo_018.004"/>
opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen. <lb n="pwo_018.005"/>
Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen, <lb n="pwo_018.006"/>
das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich <lb n="pwo_018.007"/>
poetische Wirkung stört.</p>
            <lb n="pwo_018.008"/>
            <p>  Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings <lb n="pwo_018.009"/>
am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ, <lb n="pwo_018.010"/>
indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem <lb n="pwo_018.011"/>
nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen <lb n="pwo_018.012"/>
Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv, <lb n="pwo_018.013"/>
indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein, <lb n="pwo_018.014"/>
dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck <lb n="pwo_018.015"/>
bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die <lb n="pwo_018.016"/>
Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt.</p>
            <lb n="pwo_018.017"/>
            <p>  Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt, <lb n="pwo_018.018"/>
die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form <lb n="pwo_018.019"/>
und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab <lb n="pwo_018.020"/>
ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die <lb n="pwo_018.021"/>
Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne <lb n="pwo_018.022"/>
zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu <lb n="pwo_018.023"/>
gewinnen.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_018.024"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 16. <lb n="pwo_018.025"/>
Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie.</hi> </head>
            <lb n="pwo_018.026"/>
            <p>  Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine <lb n="pwo_018.027"/>
sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen <lb n="pwo_018.028"/>
der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern <lb n="pwo_018.029"/>
selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf <lb n="pwo_018.030"/>
solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt.</p>
            <lb n="pwo_018.031"/>
            <p>  Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch <lb n="pwo_018.032"/>
hier entgegen.</p>
            <lb n="pwo_018.033"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;Poesie ist tiefes <hi rendition="#g">Schmerzen,</hi></l>
              <lb n="pwo_018.034"/>
              <l>Und es kommt das echte Lied</l>
              <lb n="pwo_018.035"/>
              <l>Einzig aus dem Menschenherzen,</l>
              <lb n="pwo_018.036"/>
              <l>Das ein heißes Weh durchglüht&#x201C; &#x2013;</l>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0032] pwo_018.001 Drang zum Charakteristischen sich gehemmt gefühlt. Eine Dichtung, pwo_018.002 deren letztes Ziel die Schönheit in Gehalt und Stoff oder in einem pwo_018.003 von beiden bliebe, müßte grundsätzlich alle charakteristischen Züge pwo_018.004 opfern, die sich nicht dem höchstmöglich schönen Zwecke unterordnen. pwo_018.005 Wohl aber werden auch diese sich zu einem Gesamtbild runden müssen, pwo_018.006 das unser Schönheitsgefühl nicht verletzt und dadurch die eigentlich pwo_018.007 poetische Wirkung stört. pwo_018.008   Was der Schönheit in der Begriffsbestimmung der Poesie allerdings pwo_018.009 am Raum gebührt, ist nach alledem sekundär: einerseits negativ, pwo_018.010 indem die Unlust an Häßlichem, Ekelhaftem, Schmutzigem, Abstoßendem pwo_018.011 nicht die eigenartige, im übrigen auf einem ganz heterogenen pwo_018.012 Gebiet liegende poetische Lust durchbrechen darf; und auch positiv, pwo_018.013 indem diese letztere, ohne in ihrer Eigenart beeinträchtigt zu sein, pwo_018.014 dieselbe möglichst harmonisch, abgerundet, in sich geschlossen zum Ausdruck pwo_018.015 bringen will. Aber selbst für die poetische Form ist damit die pwo_018.016 Schönheit nicht als das oberste Gesetz anerkannt. pwo_018.017   Zugestanden muß bleiben, daß es Schöpfungen der Poesie giebt, pwo_018.018 die teils bewußt, teils unbewußt vor allem nach Schönheit in Form pwo_018.019 und Jnhalt strebten. Aber indem andre Dichtungen diesen Maßstab pwo_018.020 ebenso entschieden als ausschlaggebend abwehren, erhellt abermals die pwo_018.021 Unmöglichkeit, eine befriedigende Begriffsbestimmung der Poesie ohne pwo_018.022 zusammenhängenden Ueberblick über all ihre Entwicklungsstufen zu pwo_018.023 gewinnen. pwo_018.024 § 16. pwo_018.025 Poetische Selbstgeständnisse über das Wesen der Poesie. pwo_018.026   Haben uns die Aesthetiker keine zuverlässige Methode und keine pwo_018.027 sichere Grundlage für Beantwortung unserer Frage nach dem Wesen pwo_018.028 der Dichtung geboten, so könnte es naheliegen, uns bei den Dichtern pwo_018.029 selbst Rats zu erholen. Jn der That hat die neueste Poetik auf pwo_018.030 solche Selbstgeständnisse größtes Gewicht gelegt. pwo_018.031   Ein ungeordnetes Durcheinander von Stimmen schallt uns auch pwo_018.032 hier entgegen. pwo_018.033 „Poesie ist tiefes Schmerzen, pwo_018.034 Und es kommt das echte Lied pwo_018.035 Einzig aus dem Menschenherzen, pwo_018.036 Das ein heißes Weh durchglüht“ –

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/32
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/32>, abgerufen am 09.11.2024.