Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_262.001 Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen pwo_262.002 Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten pwo_262.015 So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an pwo_262.022 "Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht. pwo_262.027 pwo_262.028Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht." Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser pwo_262.029 pwo_262.001 Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen pwo_262.002 Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten pwo_262.015 So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an pwo_262.022 „Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht. pwo_262.027 pwo_262.028Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht.“ Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser pwo_262.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0276" n="262"/> <lb n="pwo_262.001"/> <p> Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen <lb n="pwo_262.002"/> Methode auf geistiges Gebiet aus dem Wege gingen, <lb n="pwo_262.003"/> um so mehr gereicht es dem Ergebnis unseres Verfahrens zur Bestätigung, <lb n="pwo_262.004"/> daß es in wesentlichen Punkten mit der heutigen naturwissenschaftlichen <lb n="pwo_262.005"/> Kenntnis von der Entwicklung der Arten übereinstimmt. <lb n="pwo_262.006"/> Wie dort physisch die Völkerfamilien sich ausbilden und in <lb n="pwo_262.007"/> neue Bildungen dahinschwinden, so zeigt die Poesie geistiges Blühen <lb n="pwo_262.008"/> und Welken; und jedes jugendfrische Glied in der Kette der Völker <lb n="pwo_262.009"/> durchläuft in seiner geistigen Embryonenzeit mit Sturmschritt die <lb n="pwo_262.010"/> Stufen der Poesie, welche die Menschheit als ganzes im Laufe von <lb n="pwo_262.011"/> Jahrtausenden erstiegen hat: so spiegelt sich dem Wesen nach in jeder <lb n="pwo_262.012"/> nicht anormal beeinflußten Nationalpoesie der große Entwicklungsprozeß <lb n="pwo_262.013"/> der Weltpoesie.</p> <lb n="pwo_262.014"/> <p> Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten <lb n="pwo_262.015"/> Anfängen erwirbt die Poesie immer durchgeistigtere Ergänzungen. <lb n="pwo_262.016"/> Der Dichtergeist begnügt sich nicht an der Außenwelt der Thatsachen <lb n="pwo_262.017"/> und Erscheinungen, schweift vielmehr siegreich erobernd in die Jnnenwelt: <lb n="pwo_262.018"/> dadurch giebt er sich und der Menschheit zunächst den eigenen <lb n="pwo_262.019"/> Geist, alsdann auch jeden fremden Geist zu eigen und läßt uns in <lb n="pwo_262.020"/> einen Spiegel der ganzen Außen- wie Jnnenwelt schauen.</p> <lb n="pwo_262.021"/> <p> So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an <lb n="pwo_262.022"/> die Sinnenwelt zu immer vollerer Hingabe an die Geisteswelt und <lb n="pwo_262.023"/> führt damit offenkundig die Menschheit in unendlicher Progression <lb n="pwo_262.024"/> immer näher zu dem, was wir Gottähnlichkeit nennen. Von der <lb n="pwo_262.025"/> Poesie gilt in Wahrheit Rückerts Wort:</p> <lb n="pwo_262.026"/> <lg> <l>„Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht.</l> <lb n="pwo_262.027"/> <l>Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht.“</l> </lg> <lb n="pwo_262.028"/> <p> Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser <lb n="pwo_262.029"/> Vergeistigung birgt: verlieren wir den physischen Boden unter den <lb n="pwo_262.030"/> Füßen, so verflüchtigt sich unser Geist in krankhafte Gespenstigkeit. <lb n="pwo_262.031"/> Himmelwärts gewandt doch fest im Boden zu wurzeln, bleibt Bestimmung <lb n="pwo_262.032"/> des Menschen und ewige Aufgabe der Poesie.</p> <lb n="pwo_262.033"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [262/0276]
pwo_262.001
Je entschiedener wir einer schematischen Uebertragung der naturwissenschaftlichen pwo_262.002
Methode auf geistiges Gebiet aus dem Wege gingen, pwo_262.003
um so mehr gereicht es dem Ergebnis unseres Verfahrens zur Bestätigung, pwo_262.004
daß es in wesentlichen Punkten mit der heutigen naturwissenschaftlichen pwo_262.005
Kenntnis von der Entwicklung der Arten übereinstimmt. pwo_262.006
Wie dort physisch die Völkerfamilien sich ausbilden und in pwo_262.007
neue Bildungen dahinschwinden, so zeigt die Poesie geistiges Blühen pwo_262.008
und Welken; und jedes jugendfrische Glied in der Kette der Völker pwo_262.009
durchläuft in seiner geistigen Embryonenzeit mit Sturmschritt die pwo_262.010
Stufen der Poesie, welche die Menschheit als ganzes im Laufe von pwo_262.011
Jahrtausenden erstiegen hat: so spiegelt sich dem Wesen nach in jeder pwo_262.012
nicht anormal beeinflußten Nationalpoesie der große Entwicklungsprozeß pwo_262.013
der Weltpoesie.
pwo_262.014
Was aber offenbart sich als Ziel der Entwicklung? Zu konkreten pwo_262.015
Anfängen erwirbt die Poesie immer durchgeistigtere Ergänzungen. pwo_262.016
Der Dichtergeist begnügt sich nicht an der Außenwelt der Thatsachen pwo_262.017
und Erscheinungen, schweift vielmehr siegreich erobernd in die Jnnenwelt: pwo_262.018
dadurch giebt er sich und der Menschheit zunächst den eigenen pwo_262.019
Geist, alsdann auch jeden fremden Geist zu eigen und läßt uns in pwo_262.020
einen Spiegel der ganzen Außen- wie Jnnenwelt schauen.
pwo_262.021
So schreitet der Dichter immer weiter von bloßer Hingabe an pwo_262.022
die Sinnenwelt zu immer vollerer Hingabe an die Geisteswelt und pwo_262.023
führt damit offenkundig die Menschheit in unendlicher Progression pwo_262.024
immer näher zu dem, was wir Gottähnlichkeit nennen. Von der pwo_262.025
Poesie gilt in Wahrheit Rückerts Wort:
pwo_262.026
„Woher ich kam, wohin ich gehe, weiß ich nicht. pwo_262.027
Doch dies: von Gott zu Gott! ist meine Zuversicht.“
pwo_262.028
Nicht minder aber erkennen wir die Gefahr, die sich hinter dieser pwo_262.029
Vergeistigung birgt: verlieren wir den physischen Boden unter den pwo_262.030
Füßen, so verflüchtigt sich unser Geist in krankhafte Gespenstigkeit. pwo_262.031
Himmelwärts gewandt doch fest im Boden zu wurzeln, bleibt Bestimmung pwo_262.032
des Menschen und ewige Aufgabe der Poesie.
pwo_262.033
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |