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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Mag auch unser Volk der Heroenzeit, der eigentlichen Wiege des pwo_261.002
Epos, entwachsen sein: nicht nur nehmen dauernd jüngere Völker mit pwo_261.003
ihrem Eintritt in die Geschichte diese sagenbildende Funktion des pwo_261.004
Menschengeistes auf, wenigstens im poetischen Sinne hat der Heroenkultus pwo_261.005
auch für uns nicht aufgehört ein unwiderstehlicher Trieb, ein pwo_261.006
Mittel zu eigenem Aufschwung der Empfindung und Thatkraft zu pwo_261.007
sein. Auch wächst der Roman, so unerträglich sich gerade in ihm die pwo_261.008
Mittelmäßigkeit ausbreitet, unter den Händen fähiger Gestaltenschöpfer pwo_261.009
immer präziser zu einer künstlerisch geschliffenen Form und einem pwo_261.010
dramatisch lebendigen Charakter an. Jn der Lyrik ist zwar die Vorherrschaft pwo_261.011
des Liedes eingeschränkt, aber die Vorbedingungen des Volksgesangs pwo_261.012
bestehen fort, und die Verbreitung neuer sangbarer Produktion pwo_261.013
ragt relativ in noch höherem Maße als früher weit über die pwo_261.014
der Buchlyrik hinaus. Auf dramatischem Gebiete schließlich hat gewiß pwo_261.015
die "Schauspiel"-Fabrikation in bedrohlichem Umfang die reine Tragik pwo_261.016
wie die reine Komik verwaschen. Verheißungsvoll erscheinen dagegen pwo_261.017
die Fortbildung der sozialen Tragödie und die immer neuen Ansätze pwo_261.018
zu künstlerischem Realismus in der historischen Tragödie. Wenn sich pwo_261.019
das Lustspiel als jüngste und qualitativ ausgebildetste, quantitativ aber pwo_261.020
vorerst geringste Gattung offenbart, so dürfen wir erwarten, daß pwo_261.021
gerade seine Blütezeit - die, wie wir beobachtet haben, auf den pwo_261.022
Wegen der individuellen Charakterkomödie zu suchen ist - noch pwo_261.023
bevorsteht. -

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Aber rückwärtsgewandt wie im Laufe unserer ganzen Betrachtung pwo_261.025
bleibe auch am Schluß unser Blick. Welcher Art war die Entwicklung, pwo_261.026
die wir in der Geschichte der Poesie walten sahen? Dürfen pwo_261.027
wir von einer steten Vervollkommnung, von einem Aufstieg in gerader pwo_261.028
Linie sprechen? Von einem solchen Fortschritt schlechthin, der von pwo_261.029
unreifen, unzulänglichen Versuchen zu immer reiferen und vollendeteren pwo_261.030
führt, kann nach den gewonnenen Ergebnissen nicht die Rede sein. pwo_261.031
Die Fortentwicklung der Poesie geschieht vielmehr durch eine sich verzweigende pwo_261.032
Sprossenbildung, dergestalt daß der Stamm des menschlichen pwo_261.033
Geistes immer knospenreicher wird, freilich damit zugleich immer pwo_261.034
weniger wurzelhaft. Nicht in bloßer Verbesserung, vielmehr in Bereicherung, pwo_261.035
im Hinzutritt immer neuer Funktionen, besteht diese Vervollkommnung pwo_261.036
der menschlichen Poesie.

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  Mag auch unser Volk der Heroenzeit, der eigentlichen Wiege des pwo_261.002
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Wegen der individuellen Charakterkomödie zu suchen ist – noch pwo_261.023
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bleibe auch am Schluß unser Blick. Welcher Art war die Entwicklung, pwo_261.026
die wir in der Geschichte der Poesie walten sahen? Dürfen pwo_261.027
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Die Fortentwicklung der Poesie geschieht vielmehr durch eine sich verzweigende pwo_261.032
Sprossenbildung, dergestalt daß der Stamm des menschlichen pwo_261.033
Geistes immer knospenreicher wird, freilich damit zugleich immer pwo_261.034
weniger wurzelhaft. Nicht in bloßer Verbesserung, vielmehr in Bereicherung, pwo_261.035
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[261/0275] pwo_261.001   Mag auch unser Volk der Heroenzeit, der eigentlichen Wiege des pwo_261.002 Epos, entwachsen sein: nicht nur nehmen dauernd jüngere Völker mit pwo_261.003 ihrem Eintritt in die Geschichte diese sagenbildende Funktion des pwo_261.004 Menschengeistes auf, wenigstens im poetischen Sinne hat der Heroenkultus pwo_261.005 auch für uns nicht aufgehört ein unwiderstehlicher Trieb, ein pwo_261.006 Mittel zu eigenem Aufschwung der Empfindung und Thatkraft zu pwo_261.007 sein. Auch wächst der Roman, so unerträglich sich gerade in ihm die pwo_261.008 Mittelmäßigkeit ausbreitet, unter den Händen fähiger Gestaltenschöpfer pwo_261.009 immer präziser zu einer künstlerisch geschliffenen Form und einem pwo_261.010 dramatisch lebendigen Charakter an. Jn der Lyrik ist zwar die Vorherrschaft pwo_261.011 des Liedes eingeschränkt, aber die Vorbedingungen des Volksgesangs pwo_261.012 bestehen fort, und die Verbreitung neuer sangbarer Produktion pwo_261.013 ragt relativ in noch höherem Maße als früher weit über die pwo_261.014 der Buchlyrik hinaus. Auf dramatischem Gebiete schließlich hat gewiß pwo_261.015 die „Schauspiel“-Fabrikation in bedrohlichem Umfang die reine Tragik pwo_261.016 wie die reine Komik verwaschen. Verheißungsvoll erscheinen dagegen pwo_261.017 die Fortbildung der sozialen Tragödie und die immer neuen Ansätze pwo_261.018 zu künstlerischem Realismus in der historischen Tragödie. Wenn sich pwo_261.019 das Lustspiel als jüngste und qualitativ ausgebildetste, quantitativ aber pwo_261.020 vorerst geringste Gattung offenbart, so dürfen wir erwarten, daß pwo_261.021 gerade seine Blütezeit – die, wie wir beobachtet haben, auf den pwo_261.022 Wegen der individuellen Charakterkomödie zu suchen ist – noch pwo_261.023 bevorsteht. – pwo_261.024   Aber rückwärtsgewandt wie im Laufe unserer ganzen Betrachtung pwo_261.025 bleibe auch am Schluß unser Blick. Welcher Art war die Entwicklung, pwo_261.026 die wir in der Geschichte der Poesie walten sahen? Dürfen pwo_261.027 wir von einer steten Vervollkommnung, von einem Aufstieg in gerader pwo_261.028 Linie sprechen? Von einem solchen Fortschritt schlechthin, der von pwo_261.029 unreifen, unzulänglichen Versuchen zu immer reiferen und vollendeteren pwo_261.030 führt, kann nach den gewonnenen Ergebnissen nicht die Rede sein. pwo_261.031 Die Fortentwicklung der Poesie geschieht vielmehr durch eine sich verzweigende pwo_261.032 Sprossenbildung, dergestalt daß der Stamm des menschlichen pwo_261.033 Geistes immer knospenreicher wird, freilich damit zugleich immer pwo_261.034 weniger wurzelhaft. Nicht in bloßer Verbesserung, vielmehr in Bereicherung, pwo_261.035 im Hinzutritt immer neuer Funktionen, besteht diese Vervollkommnung pwo_261.036 der menschlichen Poesie.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/275>, abgerufen am 28.11.2024.