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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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um sie in die volle Beleuchtung ihres mannigfach geschliffenen Seelenspiegels pwo_251.002
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der Gefühle, nachdem sich die Dichterkraft ihrer selbst bewußt geworden, pwo_251.005
zu Zeiten geflissentlich potenziert wird. Anstelle des heiligen pwo_251.006
Ernstes tritt alsdann auch sonst leicht virtuoses Spiel: der Dichter pwo_251.007
wirbt um Bewunderung nicht mehr für seinen Helden, sondern für pwo_251.008
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ist schließlich das weiteste Feld geöffnet. Er "saugt nichts aus den pwo_251.011
Fingern": durch Energie von Anschauung und Empfindung, durch pwo_251.012
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Stoffelemente seiner Dichtung in einen neuen Zusammenhang, in ein pwo_251.015
neues Licht. Das ganze Reich der Erfahrung, das äußere und innere pwo_251.016
Leben, ist seine Schatzkammer.

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Die Lebenswahrheit ist darum keineswegs in dem Sinne sein pwo_251.018
A und O, daß er über den Mechanismus der Erscheinungen nicht pwo_251.019
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Fähigkeiten in der voll auf der Höhe stehenden heutigen Dichterseele pwo_251.026
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Wo die Welt sich, die ewige, spiegelt; pwo_251.031
Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht pwo_251.032
Und was uns die Zukunft versiegelt; pwo_251.033
Er saß in der Götter urältestem Rat pwo_251.034
Und behorchte der Dinge geheimste Saat."

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um sie in die volle Beleuchtung ihres mannigfach geschliffenen Seelenspiegels pwo_251.002
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  Bedenklicher ist, daß der Grundtrieb der Poesie, die Erhebung pwo_251.004
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beisammen zu finden. Der Dichter tritt uns heute als souveräner pwo_251.027
Herrscher im Reiche der Erscheinungen und der Geister pwo_251.028
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„Jhm gaben die Götter das reine Gemüt, pwo_251.030
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Er hat alles gesehn, was auf Erden geschieht pwo_251.032
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/265>, abgerufen am 24.11.2024.