Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_213.001
Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der pwo_213.002
Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht "der pwo_213.003
Rest Schweigen" - wie er es für Hamlet ist:

pwo_213.004
"Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht pwo_213.005
Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue, pwo_213.006
Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht."
pwo_213.007

Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden pwo_213.008
Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden pwo_213.009
Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt pwo_213.010
nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie, pwo_213.011
wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben:

pwo_213.012
"Erbarme dich und laß mich leben! pwo_213.013
Jst's morgen früh nicht Zeit genung? pwo_213.014
Bin ich doch noch so jung, so jung! pwo_213.015
Und soll schon sterben!"
pwo_213.016

Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie pwo_213.017
dem Tode entgegengeführt:

pwo_213.018
"Schön war ich auch, und das war mein Verderben."
pwo_213.019

Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich pwo_213.020
einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben:

pwo_213.021
"Doch - alles was dazu mich trieb, pwo_213.022
Gott, war so gut! ach, war so lieb!"
pwo_213.023

ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch:

pwo_213.024
"Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!"
pwo_213.025

So bleibt denn auch Mephistos Triumph: "Sie ist gerichtet!" nicht pwo_213.026
- wie im ersten naturalistischeren Entwurf - unwidersprochen; die pwo_213.027
Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das pwo_213.028
tröstende Wort: "Jst gerettet!" Wiederum hat das reif gewordene pwo_213.029
deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe pwo_213.030
hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter entwickelt, pwo_213.031
sondern auch den Charakter, den Geist, sich ausdrücklich pwo_213.032
über diese physische Katastrophe erheben läßt. -

pwo_213.033

Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von Schiller pwo_213.034
sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich pwo_213.035
eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des

pwo_213.001
Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der pwo_213.002
Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht „der pwo_213.003
Rest Schweigen“ – wie er es für Hamlet ist:

pwo_213.004
„Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht pwo_213.005
Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue, pwo_213.006
Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.“
pwo_213.007

Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden pwo_213.008
Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden pwo_213.009
Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt pwo_213.010
nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie, pwo_213.011
wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben:

pwo_213.012
„Erbarme dich und laß mich leben! pwo_213.013
Jst's morgen früh nicht Zeit genung? pwo_213.014
Bin ich doch noch so jung, so jung! pwo_213.015
Und soll schon sterben!“
pwo_213.016

Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie pwo_213.017
dem Tode entgegengeführt:

pwo_213.018
„Schön war ich auch, und das war mein Verderben.“
pwo_213.019

Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich pwo_213.020
einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben:

pwo_213.021
„Doch – alles was dazu mich trieb, pwo_213.022
Gott, war so gut! ach, war so lieb!“
pwo_213.023

ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch:

pwo_213.024
„Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!“
pwo_213.025

So bleibt denn auch Mephistos Triumph: „Sie ist gerichtet!“ nicht pwo_213.026
– wie im ersten naturalistischeren Entwurf – unwidersprochen; die pwo_213.027
Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das pwo_213.028
tröstende Wort: „Jst gerettet!“ Wiederum hat das reif gewordene pwo_213.029
deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe pwo_213.030
hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter entwickelt, pwo_213.031
sondern auch den Charakter, den Geist, sich ausdrücklich pwo_213.032
über diese physische Katastrophe erheben läßt. –

pwo_213.033

  Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von Schiller pwo_213.034
sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich pwo_213.035
eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0227" n="213"/><lb n="pwo_213.001"/>
Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der <lb n="pwo_213.002"/>
Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht &#x201E;der <lb n="pwo_213.003"/>
Rest Schweigen&#x201C; &#x2013; wie er es für Hamlet ist:</p>
              <lb n="pwo_213.004"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht</l>
                <lb n="pwo_213.005"/>
                <l>Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue,</l>
                <lb n="pwo_213.006"/>
                <l>Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_213.007"/>
              <p>Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden <lb n="pwo_213.008"/>
Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden <lb n="pwo_213.009"/>
Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt <lb n="pwo_213.010"/>
nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie, <lb n="pwo_213.011"/>
wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben:</p>
              <lb n="pwo_213.012"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Erbarme dich und laß mich leben!</l>
                <lb n="pwo_213.013"/>
                <l>Jst's morgen früh nicht Zeit genung?</l>
                <lb n="pwo_213.014"/>
                <l>Bin ich doch noch so jung, so jung!</l>
                <lb n="pwo_213.015"/>
                <l>Und soll schon sterben!&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_213.016"/>
              <p>Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie <lb n="pwo_213.017"/>
dem Tode entgegengeführt:</p>
              <lb n="pwo_213.018"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Schön war ich auch, und das war mein Verderben.&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_213.019"/>
              <p>Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich <lb n="pwo_213.020"/>
einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben:</p>
              <lb n="pwo_213.021"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Doch &#x2013; alles was dazu mich trieb,</l>
                <lb n="pwo_213.022"/>
                <l>Gott, war so gut! ach, war so lieb!&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_213.023"/>
              <p>ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch:</p>
              <lb n="pwo_213.024"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!&#x201C;</l>
              </lg>
              <lb n="pwo_213.025"/>
              <p>So bleibt denn auch Mephistos Triumph: &#x201E;Sie ist gerichtet!&#x201C; nicht <lb n="pwo_213.026"/>
&#x2013; wie im ersten naturalistischeren Entwurf &#x2013; unwidersprochen; die <lb n="pwo_213.027"/>
Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das <lb n="pwo_213.028"/>
tröstende Wort: &#x201E;Jst gerettet!&#x201C; Wiederum hat das reif gewordene <lb n="pwo_213.029"/>
deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe <lb n="pwo_213.030"/>
hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter <hi rendition="#g">entwickelt,</hi> <lb n="pwo_213.031"/>
sondern auch den Charakter, <hi rendition="#g">den Geist,</hi> sich ausdrücklich <lb n="pwo_213.032"/> <hi rendition="#g">über</hi> diese <hi rendition="#g">physische</hi> Katastrophe <hi rendition="#g">erheben</hi> läßt. &#x2013;</p>
              <lb n="pwo_213.033"/>
              <p>  Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von <hi rendition="#g">Schiller</hi> <lb n="pwo_213.034"/>
sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich <lb n="pwo_213.035"/>
eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0227] pwo_213.001 Faust wie des scheidenden Goethe selbst. Aber auch für den in der pwo_213.002 Blüte der Jahre Hingerafften ist im deutschen Trauerspiel nicht „der pwo_213.003 Rest Schweigen“ – wie er es für Hamlet ist: pwo_213.004 „Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnsucht pwo_213.005 Allen Künftigen auf, und jedem stirbt er aufs neue, pwo_213.006 Der die rühmliche That mit rühmlichen Thaten gekrönt wünscht.“ pwo_213.007 Doch gerade das Faust-Drama bietet ein Gegenstück für den sterbenden pwo_213.008 Greis, bietet den vorzeitigen Untergang eines in der Blüte stehenden pwo_213.009 Wesens. Der Schluß des ersten Teils, Gretchens Tod, bleibt pwo_213.010 nicht eine seelenlose, rein physische Katastrophe. Zwar fleht auch sie, pwo_213.011 wie nur immer eine Desdemona, um Frist für ihr junges Leben: pwo_213.012 „Erbarme dich und laß mich leben! pwo_213.013 Jst's morgen früh nicht Zeit genung? pwo_213.014 Bin ich doch noch so jung, so jung! pwo_213.015 Und soll schon sterben!“ pwo_213.016 Aber sie kommt sogleich zum Bewußtsein, wie ihre eigne Natur sie pwo_213.017 dem Tode entgegengeführt: pwo_213.018 „Schön war ich auch, und das war mein Verderben.“ pwo_213.019 Ja, sie ringt sich ausdrücklich zum Schuldbewußtsein durch. Die sich pwo_213.020 einst aus dem Gefühl der Sünde erhoben: pwo_213.021 „Doch – alles was dazu mich trieb, pwo_213.022 Gott, war so gut! ach, war so lieb!“ pwo_213.023 ringt sich schließlich zur Ueberwindung des Lebens durch: pwo_213.024 „Gericht Gottes! Dir hab' ich mich übergeben!“ pwo_213.025 So bleibt denn auch Mephistos Triumph: „Sie ist gerichtet!“ nicht pwo_213.026 – wie im ersten naturalistischeren Entwurf – unwidersprochen; die pwo_213.027 Engelsscharen, die Gretchen anruft, sie zu bewahren, künden das pwo_213.028 tröstende Wort: „Jst gerettet!“ Wiederum hat das reif gewordene pwo_213.029 deutsche Trauerspiel über die rein physische Gestalt der Katastrophe pwo_213.030 hinausgegriffen, indem es diese nicht nur aus dem Charakter entwickelt, pwo_213.031 sondern auch den Charakter, den Geist, sich ausdrücklich pwo_213.032 über diese physische Katastrophe erheben läßt. – pwo_213.033   Dieser ideale Zug des deutschen Dramas wird von Schiller pwo_213.034 sogar mit vollem Bewußtsein herausgearbeitet. Stellt er doch ausdrücklich pwo_213.035 eine Theorie des Trauerspiels auf, wonach es den Sieg des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/227
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/227>, abgerufen am 25.11.2024.