Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_204.001 Dies reale Charakterdrama faßt den Untergang des pwo_204.009 Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines pwo_204.020 Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit pwo_204.029 pwo_204.001 Dies reale Charakterdrama faßt den Untergang des pwo_204.009 Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines pwo_204.020 Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit pwo_204.029 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0218" n="204"/><lb n="pwo_204.001"/> der Güter höchstes nicht“, der Tod ist keine Strafe, ist unter Umständen <lb n="pwo_204.002"/> eine Erlösung von dem Uebel bezw. aus der Welt des Uebels. <lb n="pwo_204.003"/> Danach steht die Frage <hi rendition="#g">nicht</hi> mehr so, ob der Held des Todes <lb n="pwo_204.004"/> <hi rendition="#g">schuldig</hi> ist, sondern ob sein Untergang unter obwaltenden Umständen <lb n="pwo_204.005"/> bei seiner Jndividualität <hi rendition="#g">begreiflich</hi> ist. Das Leiden des Jndividuums <lb n="pwo_204.006"/> ist es danach, welches uns das englische Trauerspiel realistisch <lb n="pwo_204.007"/> vermittelt.</p> <lb n="pwo_204.008"/> <p> Dies <hi rendition="#g">reale Charakterdrama</hi> faßt den <hi rendition="#g">Untergang</hi> des <lb n="pwo_204.009"/> Menschen rein als <hi rendition="#g">physische</hi> Thatsache: <hi rendition="#g">der Held wird dadurch <lb n="pwo_204.010"/> weder schlechter noch besser;</hi> wie die Sonne über Gerechten und <lb n="pwo_204.011"/> Ungerechten scheint, geht sie auch über Gerechten und Ungerechten <lb n="pwo_204.012"/> unter. Hamlet wie der König, Desdemona wie Othello, Cordelia und <lb n="pwo_204.013"/> Lear wie Macbeth und Frau, Romeo wie Richard <hi rendition="#aq">III</hi>. – sie alle <lb n="pwo_204.014"/> sinken hin ins große Reich des Schweigens. Bald „bricht ein edles <lb n="pwo_204.015"/> Herz“, bald stirbt der „Bluthund und seine höll'sche Königin“. Wir <lb n="pwo_204.016"/> spüren das Wehen des ehernen <hi rendition="#g">Naturgesetzes</hi> – aber der unvergleichlichen <lb n="pwo_204.017"/> Kunst des Naturgenius bedurfte es, um uns das Walten <lb n="pwo_204.018"/> dieses Gesetzes eben <hi rendition="#g">natürlich erscheinen</hi> zu lassen.</p> <lb n="pwo_204.019"/> <p> Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines <lb n="pwo_204.020"/> Todes nicht schlechter hingestellt – gilt doch der Untergang nicht als <lb n="pwo_204.021"/> Strafe oder auch nur als schmerzlichster Verlust; freilich ebenso wenig <lb n="pwo_204.022"/> übt das hereinbrechende letzte Los eine sittlich läuternde Wirkung, <lb n="pwo_204.023"/> eine Vergeistigung aus. Den Tod des tragischen Helden nicht bloß <lb n="pwo_204.024"/> als natürlich, sondern als innerlich <hi rendition="#g">notwendig,</hi> selbst <hi rendition="#g">sittlich</hi> geboten <lb n="pwo_204.025"/> und dennoch als höchste <hi rendition="#g">Verklärung</hi> seines Lebens hinzustellen, <lb n="pwo_204.026"/> blieb erst der <hi rendition="#g">idealen Charaktertragödie der Deutschen</hi> <lb n="pwo_204.027"/> vorbehalten. –</p> <lb n="pwo_204.028"/> <p> Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit <lb n="pwo_204.029"/> zur Ergründung der mannigfaltigsten Charaktere blieb bei alledem <lb n="pwo_204.030"/> unerreicht und ist gerade von den deutschen Klassikern begeistert gepriesen <lb n="pwo_204.031"/> worden. Wieland nennt in seinem „Agathon“ – und Lessing <lb n="pwo_204.032"/> nimmt dies Urteil auf – Shakespeare „denjenigen unter allen Dichtern <lb n="pwo_204.033"/> seit Homer, der die Menschen vom Könige bis zum Bettler, und <lb n="pwo_204.034"/> von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff am besten gekannt, und mit <lb n="pwo_204.035"/> einer Art von unbegreiflicher Jntuition durch und durch gesehen hat“. <lb n="pwo_204.036"/> Noch bezeichnender sind die Wendungen, in denen Goethes „Wilhelm </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [204/0218]
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der Güter höchstes nicht“, der Tod ist keine Strafe, ist unter Umständen pwo_204.002
eine Erlösung von dem Uebel bezw. aus der Welt des Uebels. pwo_204.003
Danach steht die Frage nicht mehr so, ob der Held des Todes pwo_204.004
schuldig ist, sondern ob sein Untergang unter obwaltenden Umständen pwo_204.005
bei seiner Jndividualität begreiflich ist. Das Leiden des Jndividuums pwo_204.006
ist es danach, welches uns das englische Trauerspiel realistisch pwo_204.007
vermittelt.
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Dies reale Charakterdrama faßt den Untergang des pwo_204.009
Menschen rein als physische Thatsache: der Held wird dadurch pwo_204.010
weder schlechter noch besser; wie die Sonne über Gerechten und pwo_204.011
Ungerechten scheint, geht sie auch über Gerechten und Ungerechten pwo_204.012
unter. Hamlet wie der König, Desdemona wie Othello, Cordelia und pwo_204.013
Lear wie Macbeth und Frau, Romeo wie Richard III. – sie alle pwo_204.014
sinken hin ins große Reich des Schweigens. Bald „bricht ein edles pwo_204.015
Herz“, bald stirbt der „Bluthund und seine höll'sche Königin“. Wir pwo_204.016
spüren das Wehen des ehernen Naturgesetzes – aber der unvergleichlichen pwo_204.017
Kunst des Naturgenius bedurfte es, um uns das Walten pwo_204.018
dieses Gesetzes eben natürlich erscheinen zu lassen.
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Wir wiederholen: der Held wird durch die Begründung seines pwo_204.020
Todes nicht schlechter hingestellt – gilt doch der Untergang nicht als pwo_204.021
Strafe oder auch nur als schmerzlichster Verlust; freilich ebenso wenig pwo_204.022
übt das hereinbrechende letzte Los eine sittlich läuternde Wirkung, pwo_204.023
eine Vergeistigung aus. Den Tod des tragischen Helden nicht bloß pwo_204.024
als natürlich, sondern als innerlich notwendig, selbst sittlich geboten pwo_204.025
und dennoch als höchste Verklärung seines Lebens hinzustellen, pwo_204.026
blieb erst der idealen Charaktertragödie der Deutschen pwo_204.027
vorbehalten. –
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Shakespeares tiefer Blick in die Menschenseele, seine Fähigkeit pwo_204.029
zur Ergründung der mannigfaltigsten Charaktere blieb bei alledem pwo_204.030
unerreicht und ist gerade von den deutschen Klassikern begeistert gepriesen pwo_204.031
worden. Wieland nennt in seinem „Agathon“ – und Lessing pwo_204.032
nimmt dies Urteil auf – Shakespeare „denjenigen unter allen Dichtern pwo_204.033
seit Homer, der die Menschen vom Könige bis zum Bettler, und pwo_204.034
von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff am besten gekannt, und mit pwo_204.035
einer Art von unbegreiflicher Jntuition durch und durch gesehen hat“. pwo_204.036
Noch bezeichnender sind die Wendungen, in denen Goethes „Wilhelm
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