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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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So hat sich der romanische und katholische Geist eine eigenartige pwo_201.002
Tragödienform geschaffen, in welcher der Mensch unterwürfig und pwo_201.003
ohnmächtig gegen die überirdischen und irdischen Mächte des Lebens pwo_201.004
bleibt. Die Tragik dieser Unfreiheit und Unwürdigkeit des Menschentums pwo_201.005
gelangt zu wirksamstem pathetischen Ausdruck.

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Eine gewisse Herrschaft über sein Schicksal räumte dem individuellen pwo_201.007
Charakter erst die germanisch-protestantische Tragödie ein. pwo_201.008
Sie überwindet die Weltanschauung des Mittelalters und empfindet pwo_201.009
die Leiden der Menschheit mit modernem Feingefühl.

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Das englische Trauerspiel.
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Die germanischen Litteraturen, die englische und noch weit länger pwo_201.013
die deutsche, waren durch die Schule des altrömischen und neuromanischen pwo_201.014
Stils gegangen, bevor sie sich auf sich selbst besannen, den pwo_201.015
Abstand ihres Nationalgeistes vom Romanismus erkannten und nach pwo_201.016
Ausdruck des eigenen Volkscharakters rangen d. h. eine reflexionslose pwo_201.017
naive Wiedergabe des Bildes wagten, unter dem sich die Welt im pwo_201.018
germanischen Geiste malte.

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Mehr noch als sonst neuen künstlerischen Ansätzen fehlte den pwo_201.020
ersten Ausprägungen germanischen Geistes in der englischen Tragödie pwo_201.021
Maß und Form, schöne Anmut und Harmonie. Wild und ungebändigt, pwo_201.022
maßlos sowohl in der Sprache wie in der Leidenschaft treten pwo_201.023
uns Männer wie Thomas Kyd und Christoph Marlowe entgegen. pwo_201.024
Selbst Shakespeare giebt sich oft überschäumend und zügellos, selbst pwo_201.025
er schrickt vor Häufung unschöner Züge nicht zurück. Sogleich tritt pwo_201.026
bezeichnend hervor, daß glattes Ebenmaß, Schönheit der Sprache wie pwo_201.027
der Leidenschaft nicht mehr als Selbstzweck und letztes Ziel gilt. Hier pwo_201.028
treffen wir nicht das friedliche Ebenmaß der Antike, nicht den immer pwo_201.029
gleich strahlenden Glanz des romanischen Stils: charakteristische Abstufung pwo_201.030
gilt für die Leidenschaften wie für ihre Aeußerungsformen. pwo_201.031
Wie das Reich der Schönheit auf die Alleinherrschaft der Erhabenheit pwo_201.032
in der Entwicklung der Poesie folgte, so muß sich nun pwo_201.033
die Schönheit mit einer sekundären Rolle begnügen, um sich dem pwo_201.034
Charakteristischen einzuordnen.

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  So hat sich der romanische und katholische Geist eine eigenartige pwo_201.002
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ersten Ausprägungen germanischen Geistes in der englischen Tragödie pwo_201.021
Maß und Form, schöne Anmut und Harmonie. Wild und ungebändigt, pwo_201.022
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[201/0215] pwo_201.001   So hat sich der romanische und katholische Geist eine eigenartige pwo_201.002 Tragödienform geschaffen, in welcher der Mensch unterwürfig und pwo_201.003 ohnmächtig gegen die überirdischen und irdischen Mächte des Lebens pwo_201.004 bleibt. Die Tragik dieser Unfreiheit und Unwürdigkeit des Menschentums pwo_201.005 gelangt zu wirksamstem pathetischen Ausdruck. pwo_201.006   Eine gewisse Herrschaft über sein Schicksal räumte dem individuellen pwo_201.007 Charakter erst die germanisch-protestantische Tragödie ein. pwo_201.008 Sie überwindet die Weltanschauung des Mittelalters und empfindet pwo_201.009 die Leiden der Menschheit mit modernem Feingefühl. pwo_201.010 § 82. pwo_201.011 Das englische Trauerspiel. pwo_201.012   Die germanischen Litteraturen, die englische und noch weit länger pwo_201.013 die deutsche, waren durch die Schule des altrömischen und neuromanischen pwo_201.014 Stils gegangen, bevor sie sich auf sich selbst besannen, den pwo_201.015 Abstand ihres Nationalgeistes vom Romanismus erkannten und nach pwo_201.016 Ausdruck des eigenen Volkscharakters rangen d. h. eine reflexionslose pwo_201.017 naive Wiedergabe des Bildes wagten, unter dem sich die Welt im pwo_201.018 germanischen Geiste malte. pwo_201.019   Mehr noch als sonst neuen künstlerischen Ansätzen fehlte den pwo_201.020 ersten Ausprägungen germanischen Geistes in der englischen Tragödie pwo_201.021 Maß und Form, schöne Anmut und Harmonie. Wild und ungebändigt, pwo_201.022 maßlos sowohl in der Sprache wie in der Leidenschaft treten pwo_201.023 uns Männer wie Thomas Kyd und Christoph Marlowe entgegen. pwo_201.024 Selbst Shakespeare giebt sich oft überschäumend und zügellos, selbst pwo_201.025 er schrickt vor Häufung unschöner Züge nicht zurück. Sogleich tritt pwo_201.026 bezeichnend hervor, daß glattes Ebenmaß, Schönheit der Sprache wie pwo_201.027 der Leidenschaft nicht mehr als Selbstzweck und letztes Ziel gilt. Hier pwo_201.028 treffen wir nicht das friedliche Ebenmaß der Antike, nicht den immer pwo_201.029 gleich strahlenden Glanz des romanischen Stils: charakteristische Abstufung pwo_201.030 gilt für die Leidenschaften wie für ihre Aeußerungsformen. pwo_201.031 Wie das Reich der Schönheit auf die Alleinherrschaft der Erhabenheit pwo_201.032 in der Entwicklung der Poesie folgte, so muß sich nun pwo_201.033 die Schönheit mit einer sekundären Rolle begnügen, um sich dem pwo_201.034 Charakteristischen einzuordnen.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/215>, abgerufen am 24.11.2024.