Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_197.001 Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne pwo_197.019 Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe. pwo_197.033 pwo_197.001 Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne pwo_197.019 Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe. pwo_197.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0211" n="197"/><lb n="pwo_197.001"/> „Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der <lb n="pwo_197.002"/> Scenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden <lb n="pwo_197.003"/> ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte <lb n="pwo_197.004"/> befinden, und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie <lb n="pwo_197.005"/> vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben <lb n="pwo_197.006"/> des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls <lb n="pwo_197.007"/> Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder <lb n="pwo_197.008"/> mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine <lb n="pwo_197.009"/> wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur <lb n="pwo_197.010"/> deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die <lb n="pwo_197.011"/> Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am <lb n="pwo_197.012"/> besten gethan haben, anstatt der Worte: ‚der Schauplatz ist ein Saal <lb n="pwo_197.013"/> in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: <lb n="pwo_197.014"/> ‚der Schauplatz ist auf dem Theater'.“ – Thatsächlich mußte mit <lb n="pwo_197.015"/> großem Zwang ein neutraler Ort, wie ein Platz vor dem Hause, ein <lb n="pwo_197.016"/> Vorsaal oder sonst ein Raum gewählt werden, in welchem alle Parteien <lb n="pwo_197.017"/> gleichmäßig verkehren könnten.</p> <lb n="pwo_197.018"/> <p> Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne <lb n="pwo_197.019"/> Zwang durchgeführt worden, hätte sie jede Charakterentwicklung, ja <lb n="pwo_197.020"/> jede umfassendere Entwicklung der Handlung unmöglich gemacht. Wieder <lb n="pwo_197.021"/> kamen allerhand Kniffe zur Verwendung, um trotzdem den Schein <lb n="pwo_197.022"/> einer Entwicklung durchzuführen. Lessing wirft die berechtigte Frage <lb n="pwo_197.023"/> auf: „Was hilft es dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines <lb n="pwo_197.024"/> jeden Aktes zu ihrer wirklichen Ereignung ungefähr nicht viel mehr <lb n="pwo_197.025"/> Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und <lb n="pwo_197.026"/> daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden <lb n="pwo_197.027"/> muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfordert: hat er <lb n="pwo_197.028"/> darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat <lb n="pwo_197.029"/> er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage <lb n="pwo_197.030"/> thun läßt, kann zwar an einem Tage gethan werden, aber kein vernünftiger <lb n="pwo_197.031"/> Mensch wird es an einem Tage thun.“</p> <lb n="pwo_197.032"/> <p> Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe. <lb n="pwo_197.033"/> Wir wurden Zeugen, wie diese noch halb im Epischen stecken bleibt, <lb n="pwo_197.034"/> wie die äußere Handlung dominiert und den Charakter bezwingt. <lb n="pwo_197.035"/> Die französische Tragödie ist nun ähnlich noch im wesentlichen <hi rendition="#g">Jntriguenstück,</hi> <lb n="pwo_197.036"/> d. h. sie sieht in möglichst kunstvoller Verknüpfung </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [197/0211]
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„Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der pwo_197.002
Scenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden pwo_197.003
ist, warum die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte pwo_197.004
befinden, und nicht vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie pwo_197.005
vorhin waren; wenn eine Person sich als Herr und Bewohner eben pwo_197.006
des Zimmers aufführt, wo kurz vorher eine andere, als ob sie ebenfalls pwo_197.007
Herr vom Hause wäre, in aller Gelassenheit mit sich selbst oder pwo_197.008
mit einem Vertrauten gesprochen, ohne daß dieser Umstand auf eine pwo_197.009
wahrscheinliche Weise entschuldiget wird; kurz, wenn die Personen nur pwo_197.010
deswegen in den angezeigten Saal oder Garten kommen, um auf die pwo_197.011
Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des Schauspiels am pwo_197.012
besten gethan haben, anstatt der Worte: ‚der Schauplatz ist ein Saal pwo_197.013
in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu setzen: pwo_197.014
‚der Schauplatz ist auf dem Theater'.“ – Thatsächlich mußte mit pwo_197.015
großem Zwang ein neutraler Ort, wie ein Platz vor dem Hause, ein pwo_197.016
Vorsaal oder sonst ein Raum gewählt werden, in welchem alle Parteien pwo_197.017
gleichmäßig verkehren könnten.
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Noch tiefer griff die zeitliche Beschränkung ein. Wäre sie ohne pwo_197.019
Zwang durchgeführt worden, hätte sie jede Charakterentwicklung, ja pwo_197.020
jede umfassendere Entwicklung der Handlung unmöglich gemacht. Wieder pwo_197.021
kamen allerhand Kniffe zur Verwendung, um trotzdem den Schein pwo_197.022
einer Entwicklung durchzuführen. Lessing wirft die berechtigte Frage pwo_197.023
auf: „Was hilft es dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines pwo_197.024
jeden Aktes zu ihrer wirklichen Ereignung ungefähr nicht viel mehr pwo_197.025
Zeit brauchen würden, als auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und pwo_197.026
daß diese Zeit mit der, welche auf die Zwischenakte gerechnet werden pwo_197.027
muß, noch lange keinen völligen Umlauf der Sonne erfordert: hat er pwo_197.028
darum die Einheit der Zeit beobachtet? Die Worte dieser Regel hat pwo_197.029
er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage pwo_197.030
thun läßt, kann zwar an einem Tage gethan werden, aber kein vernünftiger pwo_197.031
Mensch wird es an einem Tage thun.“
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Auch stilistisch steht die französische Tragödie der antiken nahe. pwo_197.033
Wir wurden Zeugen, wie diese noch halb im Epischen stecken bleibt, pwo_197.034
wie die äußere Handlung dominiert und den Charakter bezwingt. pwo_197.035
Die französische Tragödie ist nun ähnlich noch im wesentlichen Jntriguenstück, pwo_197.036
d. h. sie sieht in möglichst kunstvoller Verknüpfung
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