Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_189.001 § 77. pwo_189.002 pwo_189.003Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie. Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen pwo_189.004 Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon pwo_189.007 Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der pwo_189.019 Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame pwo_189.032 pwo_189.001 § 77. pwo_189.002 pwo_189.003Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie. Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen pwo_189.004 Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon pwo_189.007 Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der pwo_189.019 Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame pwo_189.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0203" n="189"/> </div> <div n="4"> <lb n="pwo_189.001"/> <head> <hi rendition="#c">§ 77. <lb n="pwo_189.002"/> Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie.</hi> </head> <lb n="pwo_189.003"/> <p> Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen <lb n="pwo_189.004"/> warnt schon die verschiedene Erscheinungsform, in der sich diese Gattung <lb n="pwo_189.005"/> selbst unter den Händen der griechischen Klassiker darbietet.</p> <lb n="pwo_189.006"/> <p> Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon <lb n="pwo_189.007"/> im Verhältnis von Handlung und Charakteren. Den Weg bis zum <lb n="pwo_189.008"/> Charakterstück vermochte die antike Weltanschauung nicht zu finden: sie <lb n="pwo_189.009"/> hat die sittliche Freiheit und Verantwortung erst in dem Maße begriffen <lb n="pwo_189.010"/> und errungen, als sie sich christlichen Anschauungen näherte. Die Tragödie <lb n="pwo_189.011"/> gelangte auch in ihrer Blütezeit nicht über die Ahnung des Zusammenhangs <lb n="pwo_189.012"/> zwischen den Handlungen und dem Charakter des Menschen <lb n="pwo_189.013"/> hinaus. Wieweit seine Geschicke von ihm selbst bestimmt werden, <lb n="pwo_189.014"/> darüber hatten die Götter einen Schleier gebreitet; doch schon <lb n="pwo_189.015"/> dämmert wenigstens die Erkenntnis auf, daß die sündige, leidenschaftliche, <lb n="pwo_189.016"/> vermessene Menschennatur im allgemeinen das Verhängnis <lb n="pwo_189.017"/> herausfordere.</p> <lb n="pwo_189.018"/> <p> Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der <lb n="pwo_189.019"/> in der poetischen Entwicklung durch die griechische Tragödie geschieht. <lb n="pwo_189.020"/> Jndem die Geschehnisse nicht mehr rein episch als solche äußerlich <lb n="pwo_189.021"/> hingenommen, vielmehr als Handlungen handelnder Personen aufgefaßt <lb n="pwo_189.022"/> und zu diesen in eine innere Beziehung gesetzt werden, gelangt thatsächlich <lb n="pwo_189.023"/> eine neue innere Form der Poesie zur Ausbildung, die nicht <lb n="pwo_189.024"/> mehr bloße Thaten und nicht mehr bloße Empfindungen zur Aussprache <lb n="pwo_189.025"/> bringt, sondern die auf die Empfindungswelt zurückgeführten <lb n="pwo_189.026"/> Thaten, d. i. Handlung (<foreign xml:lang="grc">δρᾶμα</foreign>), darstellt. Die Bezeichnung <hi rendition="#g">Drama</hi> <lb n="pwo_189.027"/> ist aber in dem arg beschränkenden Sinne zu nehmen, daß die Handlungen <lb n="pwo_189.028"/> nicht notgedrungen das Geschick bestimmen. Die Harmonie <lb n="pwo_189.029"/> zwischen dem tragischen und dramatischen Zuge des Kunstwerkes ist <lb n="pwo_189.030"/> noch nicht gefunden.</p> <lb n="pwo_189.031"/> <p> Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame <lb n="pwo_189.032"/> Wirkung in Anspruch nehmen? Nicht einmal die traurige <lb n="pwo_189.033"/> Katastrophe geht durch; aber allerdings erscheint, zumal wenn wir <lb n="pwo_189.034"/> auf den Ursprung der griechischen Tragödie zurückblicken, ein ernstes <lb n="pwo_189.035"/> Leiden des Helden, die drohende, nach menschlichem Ermessen unabwendbare </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [189/0203]
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§ 77. pwo_189.002
Wesen und Wirkung der griechischen Tragödie. pwo_189.003
Vor eilfertiger Definition der Tragödie in Bausch und Bogen pwo_189.004
warnt schon die verschiedene Erscheinungsform, in der sich diese Gattung pwo_189.005
selbst unter den Händen der griechischen Klassiker darbietet.
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Schwankungen und manche unfertigen Ansätze gewahren wir schon pwo_189.007
im Verhältnis von Handlung und Charakteren. Den Weg bis zum pwo_189.008
Charakterstück vermochte die antike Weltanschauung nicht zu finden: sie pwo_189.009
hat die sittliche Freiheit und Verantwortung erst in dem Maße begriffen pwo_189.010
und errungen, als sie sich christlichen Anschauungen näherte. Die Tragödie pwo_189.011
gelangte auch in ihrer Blütezeit nicht über die Ahnung des Zusammenhangs pwo_189.012
zwischen den Handlungen und dem Charakter des Menschen pwo_189.013
hinaus. Wieweit seine Geschicke von ihm selbst bestimmt werden, pwo_189.014
darüber hatten die Götter einen Schleier gebreitet; doch schon pwo_189.015
dämmert wenigstens die Erkenntnis auf, daß die sündige, leidenschaftliche, pwo_189.016
vermessene Menschennatur im allgemeinen das Verhängnis pwo_189.017
herausfordere.
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Bedeutsam und einschneidend bleibt der Fortschritt immerhin, der pwo_189.019
in der poetischen Entwicklung durch die griechische Tragödie geschieht. pwo_189.020
Jndem die Geschehnisse nicht mehr rein episch als solche äußerlich pwo_189.021
hingenommen, vielmehr als Handlungen handelnder Personen aufgefaßt pwo_189.022
und zu diesen in eine innere Beziehung gesetzt werden, gelangt thatsächlich pwo_189.023
eine neue innere Form der Poesie zur Ausbildung, die nicht pwo_189.024
mehr bloße Thaten und nicht mehr bloße Empfindungen zur Aussprache pwo_189.025
bringt, sondern die auf die Empfindungswelt zurückgeführten pwo_189.026
Thaten, d. i. Handlung (δρᾶμα), darstellt. Die Bezeichnung Drama pwo_189.027
ist aber in dem arg beschränkenden Sinne zu nehmen, daß die Handlungen pwo_189.028
nicht notgedrungen das Geschick bestimmen. Die Harmonie pwo_189.029
zwischen dem tragischen und dramatischen Zuge des Kunstwerkes ist pwo_189.030
noch nicht gefunden.
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Was darf diese Gattung danach als gemeinsames Ziel, als gemeinsame pwo_189.032
Wirkung in Anspruch nehmen? Nicht einmal die traurige pwo_189.033
Katastrophe geht durch; aber allerdings erscheint, zumal wenn wir pwo_189.034
auf den Ursprung der griechischen Tragödie zurückblicken, ein ernstes pwo_189.035
Leiden des Helden, die drohende, nach menschlichem Ermessen unabwendbare
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