Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_188.001 Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja pwo_188.012 Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung. pwo_188.019 pwo_188.001 Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja pwo_188.012 Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung. pwo_188.019 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0202" n="188"/><lb n="pwo_188.001"/> auf die Bühne zu treten; die Erwartung ist überhaupt zunächst <lb n="pwo_188.002"/> nur anzuregen, zumal der Stoff als bekannt vorausgesetzt werden darf. <lb n="pwo_188.003"/> Nach solchem kurzen Vordersatz (<foreign xml:lang="grc">πρότασις</foreign>), der Einführung oder Exposition, <lb n="pwo_188.004"/> folgt als Steigerung (<foreign xml:lang="grc">ἐπίτασις</foreign>) die Verwicklung der Handlung <lb n="pwo_188.005"/> im primitivsten Sinn des Wortes, d. h. die Gegenüberstellung des <lb n="pwo_188.006"/> Helden und des Gegenspielers mit ihren sich durchkreuzenden Absichten <lb n="pwo_188.007"/> und Handlungen. Durch retardierende Momente darf sich dieses <lb n="pwo_188.008"/> Mittelglied dehnen. Scharf spitzt sich alsdann die Handlung auf den <lb n="pwo_188.009"/> Wendepunkt (<foreign xml:lang="grc">καταστροφή</foreign>) als den Beginn der Auflösung zu, meist <lb n="pwo_188.010"/> um jäh abzubrechen.</p> <lb n="pwo_188.011"/> <p> Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja <lb n="pwo_188.012"/> entgegengesetzten Elementen. Entsprechend dem ursprünglich vorherrschenden <lb n="pwo_188.013"/> Chorgesang finden sich immer wieder sehr ausgedehnte Ausführungen <lb n="pwo_188.014"/> von stark epischem Charakter. An den erregten, eigentlich <lb n="pwo_188.015"/> dramatischsten Stellen gewinnt die kurze Wechselrede das Feld, die in <lb n="pwo_188.016"/> Hast und Ueberstürzung Zug um Zug, Rede und Gegenrede bietet <lb n="pwo_188.017"/> und sich oft sentenziös zuspitzt.</p> <lb n="pwo_188.018"/> <p> Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung. <lb n="pwo_188.019"/> Da diese nur an die beiden Hauptfeste geknüpft war und auf Staatskosten <lb n="pwo_188.020"/> erfolgte, auch die Beschaffung des Chors anderweit nicht möglich <lb n="pwo_188.021"/> war, gelangte naturgemäß nicht jede Tragödie zu diesem eigentlichen <lb n="pwo_188.022"/> Ziel. Der Dichter hatte möglichst selbst die Einschulung des <lb n="pwo_188.023"/> Chors wie der Einzelspieler zu besorgen. Schon zu Thespis' Zeit <lb n="pwo_188.024"/> führte zuerst Athen Wettkämpfe ein und verteilte Preise. Die Zulassung <lb n="pwo_188.025"/> zur Aufführung entschied der Archon, der ursprünglich auch <lb n="pwo_188.026"/> die Preisrichter ernannte; später übernahm der Rat der Fünfhundert <lb n="pwo_188.027"/> die Auswahl derselben. Sie folgten in ihrem Urteil meist der öffentlichen <lb n="pwo_188.028"/> Meinung. Zutritt hatten alle Männer; an den städtischen <lb n="pwo_188.029"/> Dionysien, an denen lebhafter Fremdenzustrom erfolgte, wird die Zahl <lb n="pwo_188.030"/> der Zuschauer im Durchschnitt auf mehr als dreißigtausend berechnet; <lb n="pwo_188.031"/> enger war der Kreis der Teilnehmer an den Lenäen. Jedenfalls <lb n="pwo_188.032"/> bewahrte die Aufführung den Charakter eines nationalen Festes mit <lb n="pwo_188.033"/> religiöser Weihe.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [188/0202]
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auf die Bühne zu treten; die Erwartung ist überhaupt zunächst pwo_188.002
nur anzuregen, zumal der Stoff als bekannt vorausgesetzt werden darf. pwo_188.003
Nach solchem kurzen Vordersatz (πρότασις), der Einführung oder Exposition, pwo_188.004
folgt als Steigerung (ἐπίτασις) die Verwicklung der Handlung pwo_188.005
im primitivsten Sinn des Wortes, d. h. die Gegenüberstellung des pwo_188.006
Helden und des Gegenspielers mit ihren sich durchkreuzenden Absichten pwo_188.007
und Handlungen. Durch retardierende Momente darf sich dieses pwo_188.008
Mittelglied dehnen. Scharf spitzt sich alsdann die Handlung auf den pwo_188.009
Wendepunkt (καταστροφή) als den Beginn der Auflösung zu, meist pwo_188.010
um jäh abzubrechen.
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Der versifizierte Dialog operiert mit zwei verschiedenartigen, ja pwo_188.012
entgegengesetzten Elementen. Entsprechend dem ursprünglich vorherrschenden pwo_188.013
Chorgesang finden sich immer wieder sehr ausgedehnte Ausführungen pwo_188.014
von stark epischem Charakter. An den erregten, eigentlich pwo_188.015
dramatischsten Stellen gewinnt die kurze Wechselrede das Feld, die in pwo_188.016
Hast und Ueberstürzung Zug um Zug, Rede und Gegenrede bietet pwo_188.017
und sich oft sentenziös zuspitzt.
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Die tragische Dichtung geschah zum Zwecke öffentlicher Aufführung. pwo_188.019
Da diese nur an die beiden Hauptfeste geknüpft war und auf Staatskosten pwo_188.020
erfolgte, auch die Beschaffung des Chors anderweit nicht möglich pwo_188.021
war, gelangte naturgemäß nicht jede Tragödie zu diesem eigentlichen pwo_188.022
Ziel. Der Dichter hatte möglichst selbst die Einschulung des pwo_188.023
Chors wie der Einzelspieler zu besorgen. Schon zu Thespis' Zeit pwo_188.024
führte zuerst Athen Wettkämpfe ein und verteilte Preise. Die Zulassung pwo_188.025
zur Aufführung entschied der Archon, der ursprünglich auch pwo_188.026
die Preisrichter ernannte; später übernahm der Rat der Fünfhundert pwo_188.027
die Auswahl derselben. Sie folgten in ihrem Urteil meist der öffentlichen pwo_188.028
Meinung. Zutritt hatten alle Männer; an den städtischen pwo_188.029
Dionysien, an denen lebhafter Fremdenzustrom erfolgte, wird die Zahl pwo_188.030
der Zuschauer im Durchschnitt auf mehr als dreißigtausend berechnet; pwo_188.031
enger war der Kreis der Teilnehmer an den Lenäen. Jedenfalls pwo_188.032
bewahrte die Aufführung den Charakter eines nationalen Festes mit pwo_188.033
religiöser Weihe.
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