Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_184.001 Erheben, wen um Hülfe flehn, da Götterfurcht pwo_184.002 pwo_184.007Den Lohn der Gottverächter mir erworben hat? pwo_184.003 Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war, pwo_184.004 Erkenn' ich, wenn ich büßte, daß ich schuldig bin: pwo_184.005 Sind diese schuldig, möge dann kein größres Leid pwo_184.006 Sie treffen, als sie wider Recht an mir gethan!" Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die pwo_184.008 "Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ pwo_184.017 pwo_184.020Jch das himmlische Reich, pwo_184.018 Zu verkündigen dir die Beschlüsse von Zeus pwo_184.019 Und zu hemmen die Bahn, so du jetzo betrittst." Entsprechend schließt Philoktet: pwo_184.021"Auf glücklicher Bahn sende mich fahrlos, pwo_184.022 pwo_184.025Wohin mich beruft des Verhängnisses Macht pwo_184.023 Und von Freunden das Wort, und, der alles bezwingt, pwo_184.024 Der Gott, der solches vollendet!" - Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine pwo_184.026 "... Was die Götter pwo_184.033 pwo_184.036Verhängen, bleibt uns ja verhüllt, und keiner pwo_184.034 Vermag des Unglücks Nahn vorauszusehn. pwo_184.035 Das Schicksal führt in unerforschte Fernen." Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß pwo_184.037 pwo_184.001 Erheben, wen um Hülfe flehn, da Götterfurcht pwo_184.002 pwo_184.007Den Lohn der Gottverächter mir erworben hat? pwo_184.003 Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war, pwo_184.004 Erkenn' ich, wenn ich büßte, daß ich schuldig bin: pwo_184.005 Sind diese schuldig, möge dann kein größres Leid pwo_184.006 Sie treffen, als sie wider Recht an mir gethan!“ Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die pwo_184.008 „Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ pwo_184.017 pwo_184.020Jch das himmlische Reich, pwo_184.018 Zu verkündigen dir die Beschlüsse von Zeus pwo_184.019 Und zu hemmen die Bahn, so du jetzo betrittst.“ Entsprechend schließt Philoktet: pwo_184.021„Auf glücklicher Bahn sende mich fahrlos, pwo_184.022 pwo_184.025Wohin mich beruft des Verhängnisses Macht pwo_184.023 Und von Freunden das Wort, und, der alles bezwingt, pwo_184.024 Der Gott, der solches vollendet!“ – Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine pwo_184.026 „... Was die Götter pwo_184.033 pwo_184.036Verhängen, bleibt uns ja verhüllt, und keiner pwo_184.034 Vermag des Unglücks Nahn vorauszusehn. pwo_184.035 Das Schicksal führt in unerforschte Fernen.“ Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß pwo_184.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0198" n="184"/> <lb n="pwo_184.001"/> <lg> <l>Erheben, wen um Hülfe flehn, da Götterfurcht</l> <lb n="pwo_184.002"/> <l>Den Lohn der Gottverächter mir erworben hat?</l> <lb n="pwo_184.003"/> <l>Doch wenn es so den Göttern wohlgefällig war,</l> <lb n="pwo_184.004"/> <l>Erkenn' ich, wenn ich büßte, daß ich schuldig bin:</l> <lb n="pwo_184.005"/> <l>Sind diese schuldig, möge dann kein größres Leid</l> <lb n="pwo_184.006"/> <l>Sie treffen, als sie wider Recht an mir gethan!“</l> </lg> <lb n="pwo_184.007"/> <p>Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die <lb n="pwo_184.008"/> Ahnung an, das Leben sei der Güter höchstes nicht. Auch sonst fehlt <lb n="pwo_184.009"/> es in den reichlichen Sinnsprüchen nicht an sittigendem Gehalt. Bezeichnend <lb n="pwo_184.010"/> genug wird immer wieder als „der Uebel allergrößtes für <lb n="pwo_184.011"/> die Menschen“ die Unbesonnenheit und Vermessenheit hingestellt. Obgleich <lb n="pwo_184.012"/> die Charakteristik vorgeschritten, bleibt sie oft noch ohne Bezug <lb n="pwo_184.013"/> zur Katastrophe, und der <hi rendition="#aq">deus ex machina</hi> muß bemüht werden, <lb n="pwo_184.014"/> oft direkt um in die Handlung der Menschen einzugreifen. So erscheint <lb n="pwo_184.015"/> Herakles im „Philoktet“ als Bote des Zeus:</p> <lb n="pwo_184.016"/> <lg> <l>„Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ</l> <lb n="pwo_184.017"/> <l>Jch das himmlische Reich,</l> <lb n="pwo_184.018"/> <l>Zu verkündigen dir die Beschlüsse von Zeus</l> <lb n="pwo_184.019"/> <l>Und <hi rendition="#g">zu hemmen die Bahn,</hi> so du jetzo betrittst.“</l> </lg> <lb n="pwo_184.020"/> <p>Entsprechend schließt Philoktet:</p> <lb n="pwo_184.021"/> <lg> <l>„Auf glücklicher Bahn sende mich fahrlos,</l> <lb n="pwo_184.022"/> <l>Wohin mich beruft des Verhängnisses Macht</l> <lb n="pwo_184.023"/> <l>Und von Freunden das Wort, und, der alles bezwingt,</l> <lb n="pwo_184.024"/> <l>Der Gott, der solches vollendet!“ –</l> </lg> <lb n="pwo_184.025"/> <p> Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine <lb n="pwo_184.026"/> ethischen Zwecke gemodelt. <hi rendition="#g">Euripides</hi> sucht die Menschen zu zeigen, <lb n="pwo_184.027"/> wie sie sind. Dieser dritte unter den großen Tragikern Griechenlands <lb n="pwo_184.028"/> ist Realist sowohl in der Charakterzeichnung wie in der Sprache. <lb n="pwo_184.029"/> Anstelle der ethischen Größe tritt Dialektik der Leidenschaft. Fortgesetzt <lb n="pwo_184.030"/> beherrscht „der Götter wie der Menschen Los Notwendigkeit <lb n="pwo_184.031"/> ohn' Unterschied“; und</p> <lb n="pwo_184.032"/> <lg> <l> „... Was die Götter</l> <lb n="pwo_184.033"/> <l>Verhängen, bleibt uns ja verhüllt, und keiner</l> <lb n="pwo_184.034"/> <l>Vermag des Unglücks Nahn vorauszusehn.</l> <lb n="pwo_184.035"/> <l>Das Schicksal führt in unerforschte Fernen.“</l> </lg> <lb n="pwo_184.036"/> <p>Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß <lb n="pwo_184.037"/> wir es nicht zu erkennen vermögen; aber wir sind auch zu schwach, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [184/0198]
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Jn solchen Wendungen der Antigone kündigt sich leise schon die pwo_184.008
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es in den reichlichen Sinnsprüchen nicht an sittigendem Gehalt. Bezeichnend pwo_184.010
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die Menschen“ die Unbesonnenheit und Vermessenheit hingestellt. Obgleich pwo_184.012
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zur Katastrophe, und der deus ex machina muß bemüht werden, pwo_184.014
oft direkt um in die Handlung der Menschen einzugreifen. So erscheint pwo_184.015
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„Jn Sorge für dich bin ich hier und verließ pwo_184.017
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Und zu hemmen die Bahn, so du jetzo betrittst.“
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Entsprechend schließt Philoktet:
pwo_184.021
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Sophokles hatte die Menschen noch immer als Jdealbilder für seine pwo_184.026
ethischen Zwecke gemodelt. Euripides sucht die Menschen zu zeigen, pwo_184.027
wie sie sind. Dieser dritte unter den großen Tragikern Griechenlands pwo_184.028
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Anstelle der ethischen Größe tritt Dialektik der Leidenschaft. Fortgesetzt pwo_184.030
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Nicht das göttliche Schicksal ist blind, wir Menschen sind blind, daß pwo_184.037
wir es nicht zu erkennen vermögen; aber wir sind auch zu schwach,
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