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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Da sah er denn, daß von den Geschöpfen keines ohne Haß lebt, pwo_160.002
aber - sie haben ihre Ordnung, sie wählen sich ihre Führer, denen pwo_160.003
sie sich unterordnen. Und damit ist die Ueberleitung gegeben.

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"So we dir, tiuschiu zunge, pwo_160.005
wie stet dein ordenunge, pwo_160.006
daz nau diu mugge ir künec hat pwo_160.007
und daz dein ere also zergat!"

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Jn der Entfaltung der Gedanken gewinnt die Allegorie weiteste pwo_160.009
Ausdehnung; ein einheitliches Bild gelangt zu künstlerischer Durchführung:

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"Ja leider desn mac niht gesein, pwo_160.012
daz guot und werltlich ere pwo_160.013
und gotes hulde mere pwo_160.014
zesamene in ein herze komen. pwo_160.015
steig unde wege sint in benomen: pwo_160.016
untriuwe ist in der saze, pwo_160.017
gewalt vert auf der straze, pwo_160.018
frid unde reht sint sere wunt: pwo_160.019
diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden e gesunt."

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Wie eine aufjubelnde Empfindung von einer plastischen Phantasie alsbald pwo_160.021
in gegenständliche Darlegungen, zum teil in direkte Erzählung pwo_160.022
hinübergeleitet wird, zeigt fast jede Strophe.

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"Ich han mein lehen, al die werlt! ich han mein lehen!"

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Mit diesem Ausruf kennzeichnet der Beginn des Spruches den Keim pwo_160.025
dieses Gedichtes. Jndem Walther nun die Folgen des ausgerufenen pwo_160.026
Ereignisses abmißt, tritt in Kontrastwirkung sein bisheriges armseliges pwo_160.027
Leben mit rührender Deutlichkeit hervor:

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"Nau enfürhte ich niht den hornunc an die zehen pwo_160.029
und wil alle boese herren deste minne vlehen. pwo_160.030
der edel künic, der milte künic hat mich beraten, pwo_160.031
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze han. pwo_160.032
mein nahgebauren dunke ich verre baz getan: pwo_160.033
sie sehent mich niht mer an in butzen weis also sie taten ..."

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Aeußere Erlebnisse, die zum Keim eines Liedes werden, ziehen oft in pwo_160.035
voller Anschaulichkeit an uns vorüber, so daß durch die Erreger der pwo_160.036
Stimmung diese auch in uns unmittelbar erzeugt wird. Hier ragt pwo_160.037
als einer der Gipfel von Walthers Poesie empor:

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"Owe war sint verswunden alliu meiniu jar?"

pwo_160.001

Da sah er denn, daß von den Geschöpfen keines ohne Haß lebt, pwo_160.002
aber – sie haben ihre Ordnung, sie wählen sich ihre Führer, denen pwo_160.003
sie sich unterordnen. Und damit ist die Ueberleitung gegeben.

pwo_160.004

„Sô wê dir, tiuschiu zunge, pwo_160.005
wie stêt dîn ordenunge, pwo_160.006
daz nû diu mugge ir künec hât pwo_160.007
und daz dîn êre alsô zergât!“

pwo_160.008

Jn der Entfaltung der Gedanken gewinnt die Allegorie weiteste pwo_160.009
Ausdehnung; ein einheitliches Bild gelangt zu künstlerischer Durchführung:

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pwo_160.011

„Jâ leider desn mac niht gesîn, pwo_160.012
daz guot und werltlich êre pwo_160.013
und gotes hulde mêre pwo_160.014
zesamene in ein herze komen. pwo_160.015
stîg unde wege sint in benomen: pwo_160.016
untriuwe ist in der sâze, pwo_160.017
gewalt vert ûf der strâze, pwo_160.018
frid unde reht sint sêre wunt: pwo_160.019
diu driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.“

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Wie eine aufjubelnde Empfindung von einer plastischen Phantasie alsbald pwo_160.021
in gegenständliche Darlegungen, zum teil in direkte Erzählung pwo_160.022
hinübergeleitet wird, zeigt fast jede Strophe.

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„Ich hân mîn lêhen, al die werlt! ich hân mîn lêhen!“

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Mit diesem Ausruf kennzeichnet der Beginn des Spruches den Keim pwo_160.025
dieses Gedichtes. Jndem Walther nun die Folgen des ausgerufenen pwo_160.026
Ereignisses abmißt, tritt in Kontrastwirkung sein bisheriges armseliges pwo_160.027
Leben mit rührender Deutlichkeit hervor:

pwo_160.028

„Nû enfürhte ich niht den hornunc an die zêhen pwo_160.029
und wil alle bœse hêrren deste minne vlêhen. pwo_160.030
der edel künic, der milte künic hât mich berâten, pwo_160.031
daz ich den sumer luft und in dem winter hitze hân. pwo_160.032
mîn nâhgebûren dunke ich verre baz getân: pwo_160.033
sie sehent mich niht mêr an in butzen wîs alsô sie tâten ...“

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Aeußere Erlebnisse, die zum Keim eines Liedes werden, ziehen oft in pwo_160.035
voller Anschaulichkeit an uns vorüber, so daß durch die Erreger der pwo_160.036
Stimmung diese auch in uns unmittelbar erzeugt wird. Hier ragt pwo_160.037
als einer der Gipfel von Walthers Poesie empor:

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„Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr?“

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/174>, abgerufen am 24.11.2024.