Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_132.001 An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft pwo_132.002 "Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne pwo_132.008 pwo_132.015Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen, pwo_132.009 Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin, pwo_132.010 Laß mich erliegen. pwo_132.011 Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals pwo_132.012 Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen, pwo_132.013 Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters pwo_132.014 Halle verlassen." Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung pwo_132.016 "Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich pwo_132.019 pwo_132.024Durch die Luft dein Taubengespann ... pwo_132.020 So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest, pwo_132.021 Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd: pwo_132.022 ,Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch pwo_132.023 Riefst du mich, Sappho? ...'" Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines - nur verallgemeinerten pwo_132.025 "Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ..." pwo_132.029Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis, pwo_132.030 Einen ausgeprägt lehrhaften Zug gewinnt die griechische Lyrik pwo_132.033 pwo_132.001 An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft pwo_132.002 „Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne pwo_132.008 pwo_132.015Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen, pwo_132.009 Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin, pwo_132.010 Laß mich erliegen. pwo_132.011 Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals pwo_132.012 Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen, pwo_132.013 Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters pwo_132.014 Halle verlassen.“ Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung pwo_132.016 „Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich pwo_132.019 pwo_132.024Durch die Luft dein Taubengespann ... pwo_132.020 So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest, pwo_132.021 Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd: pwo_132.022 ‚Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch pwo_132.023 Riefst du mich, Sappho? ...'“ Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines – nur verallgemeinerten pwo_132.025 „Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ...“ pwo_132.029Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis, pwo_132.030 Einen ausgeprägt lehrhaften Zug gewinnt die griechische Lyrik pwo_132.033 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0146" n="132"/> <lb n="pwo_132.001"/> <p> An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft <lb n="pwo_132.002"/> Sappho womöglich noch den männlichen Genossen. Beweiskräftiger <lb n="pwo_132.003"/> können sich kaum nach Stoff und innerer Form die Elemente der <lb n="pwo_132.004"/> lyrischen Entwicklung bekunden als in manchen ihrer Lieder: das Ausgehen <lb n="pwo_132.005"/> vom Religiösen und Erzählenden, die Wendung beider in den <lb n="pwo_132.006"/> Dienst des Weltlichen und Empfindungsvollen.</p> <lb n="pwo_132.007"/> <lg> <l>„Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne</l> <lb n="pwo_132.008"/> <l>Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen,</l> <lb n="pwo_132.009"/> <l>Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin,</l> <lb n="pwo_132.010"/> <l> Laß mich erliegen.</l> <lb n="pwo_132.011"/> <l>Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals</l> <lb n="pwo_132.012"/> <l>Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen,</l> <lb n="pwo_132.013"/> <l>Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters</l> <lb n="pwo_132.014"/> <l> Halle verlassen.“</l> </lg> <lb n="pwo_132.015"/> <p>Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung <lb n="pwo_132.016"/> ihres früheren – als wiederholt vorausgesetzten – huldvollen Herabneigens <lb n="pwo_132.017"/> zur Dichterin:</p> <lb n="pwo_132.018"/> <lg> <l>„Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich</l> <lb n="pwo_132.019"/> <l>Durch die Luft dein Taubengespann ...</l> <lb n="pwo_132.020"/> <l>So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest,</l> <lb n="pwo_132.021"/> <l>Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd:</l> <lb n="pwo_132.022"/> <l>‚Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch</l> <lb n="pwo_132.023"/> <l> Riefst du mich, Sappho? ...'“</l> </lg> <lb n="pwo_132.024"/> <p>Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines – nur verallgemeinerten <lb n="pwo_132.025"/> – verflossenen Vorgangs mündet das Lied wieder in <lb n="pwo_132.026"/> eine Schlußstrophe, die gleich der Eingangsstrophe aus einer Anrufung <lb n="pwo_132.027"/> besteht:</p> <lb n="pwo_132.028"/> <lg> <l>„Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ...“</l> </lg> <lb n="pwo_132.029"/> <p>Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis, <lb n="pwo_132.030"/> wird erzählt: vielmehr was immer gewesen ist, darum ferner <lb n="pwo_132.031"/> sein und dauern soll. –</p> <lb n="pwo_132.032"/> <p> Einen ausgeprägt <hi rendition="#g">lehrhaften</hi> Zug gewinnt die griechische Lyrik <lb n="pwo_132.033"/> mit Theognis. Nicht nur daß der Megarenser in ausgedehntem Maße <lb n="pwo_132.034"/> direkter Spruchdichtung huldigte, auch seine größeren elegischen <lb n="pwo_132.035"/> Gefühlsäußerungen sind sehr stark mit ethisch-didaktischen Zügen durchsetzt. <lb n="pwo_132.036"/> Was bei ihm vorherrscht, sind nicht mehr Empfindungen, die <lb n="pwo_132.037"/> aus einer einzelnen, obschon verallgemeinerten oder dauern gedacht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [132/0146]
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An Leidenschaft namentlich auf erotischem Gebiete übertrifft pwo_132.002
Sappho womöglich noch den männlichen Genossen. Beweiskräftiger pwo_132.003
können sich kaum nach Stoff und innerer Form die Elemente der pwo_132.004
lyrischen Entwicklung bekunden als in manchen ihrer Lieder: das Ausgehen pwo_132.005
vom Religiösen und Erzählenden, die Wendung beider in den pwo_132.006
Dienst des Weltlichen und Empfindungsvollen.
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„Die du thronst auf Blumen, o schaumgeborne pwo_132.008
Tochter des Zeus, listsinnende, hör' mich rufen, pwo_132.009
Nicht in Schmach und bitterer Qual, o Göttin, pwo_132.010
Laß mich erliegen. pwo_132.011
Sondern huldvoll neige dich mir, wenn jemals pwo_132.012
Du mein Flehn willfährigen Ohres vernommen, pwo_132.013
Wenn du je, zur Hilfe bereit, des Vaters pwo_132.014
Halle verlassen.“
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Es folgt vier Strophen lang eine dramatisch lebendige Erzählung pwo_132.016
ihres früheren – als wiederholt vorausgesetzten – huldvollen Herabneigens pwo_132.017
zur Dichterin:
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„Raschen Flugs auf goldenem Wagen zog dich pwo_132.019
Durch die Luft dein Taubengespann ... pwo_132.020
So dem Blitz gleich, stiegst du herab und fragtest, pwo_132.021
Sel'ge, mit unsterblichem Antlitz lächelnd: pwo_132.022
‚Welch ein Gram verzehrt dir das Herz, warum doch pwo_132.023
Riefst du mich, Sappho? ...'“
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Nach solcher scenischen und dialogischen Entfaltung eines – nur verallgemeinerten pwo_132.025
– verflossenen Vorgangs mündet das Lied wieder in pwo_132.026
eine Schlußstrophe, die gleich der Eingangsstrophe aus einer Anrufung pwo_132.027
besteht:
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„Komm denn, komm auch heute, den Gram zu lösen! ...“
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Nicht mehr das einmal vorübergehend Gewesene, das historische Einzelereignis, pwo_132.030
wird erzählt: vielmehr was immer gewesen ist, darum ferner pwo_132.031
sein und dauern soll. –
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Einen ausgeprägt lehrhaften Zug gewinnt die griechische Lyrik pwo_132.033
mit Theognis. Nicht nur daß der Megarenser in ausgedehntem Maße pwo_132.034
direkter Spruchdichtung huldigte, auch seine größeren elegischen pwo_132.035
Gefühlsäußerungen sind sehr stark mit ethisch-didaktischen Zügen durchsetzt. pwo_132.036
Was bei ihm vorherrscht, sind nicht mehr Empfindungen, die pwo_132.037
aus einer einzelnen, obschon verallgemeinerten oder dauern gedacht
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