Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_125.001

Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in pwo_125.002
Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes pwo_125.003
weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen pwo_125.004
zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion pwo_125.005
bereits die Klage:

pwo_125.006

"Jch suchte, aber ich fand ihn nicht."

pwo_125.007

Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied pwo_125.008
spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, pwo_125.009
als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An pwo_125.010
einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf:

pwo_125.011

"Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!"

pwo_125.012

Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald pwo_125.013
mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen pwo_125.014
Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen:

pwo_125.015

"Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, pwo_125.016
komm her!"

pwo_125.017

Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt pwo_125.018
und klingt wieder. So:

pwo_125.019

"Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du."

pwo_125.020

Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß:

pwo_125.021

"Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken pwo_125.022
an dir."

pwo_125.023

Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als A und O der Partie pwo_125.024
hervor.

pwo_125.025

Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; pwo_125.026
die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter pwo_125.027
platz.

pwo_125.028

Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den pwo_125.029
Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend pwo_125.030
lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische pwo_125.031
Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische pwo_125.032
Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:

pwo_125.033

"Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.

pwo_125.001

Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in pwo_125.002
Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes pwo_125.003
weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen pwo_125.004
zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion pwo_125.005
bereits die Klage:

pwo_125.006

„Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.“

pwo_125.007

Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied pwo_125.008
spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, pwo_125.009
als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An pwo_125.010
einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf:

pwo_125.011

„Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!“

pwo_125.012

Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald pwo_125.013
mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen pwo_125.014
Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen:

pwo_125.015

„Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, pwo_125.016
komm her!“

pwo_125.017

Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt pwo_125.018
und klingt wieder. So:

pwo_125.019

  „Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.“

pwo_125.020

Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß:

pwo_125.021

„Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken pwo_125.022
an dir.“

pwo_125.023

Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als Α und Ω der Partie pwo_125.024
hervor.

pwo_125.025

  Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; pwo_125.026
die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter pwo_125.027
platz.

pwo_125.028

  Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den pwo_125.029
Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend pwo_125.030
lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische pwo_125.031
Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische pwo_125.032
Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:

pwo_125.033

  „Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0139" n="125"/>
            <lb n="pwo_125.001"/>
            <p><hi rendition="#g">Wiederholung</hi> von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in <lb n="pwo_125.002"/>
Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes <lb n="pwo_125.003"/>
weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen <lb n="pwo_125.004"/>
zum <hi rendition="#g">Refrän</hi> heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion <lb n="pwo_125.005"/>
bereits die Klage:</p>
            <lb n="pwo_125.006"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_125.007"/>
            <p>Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied <lb n="pwo_125.008"/>
spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, <lb n="pwo_125.009"/>
als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An <lb n="pwo_125.010"/>
einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf:</p>
            <lb n="pwo_125.011"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_125.012"/>
            <p>Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald <lb n="pwo_125.013"/>
mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen <lb n="pwo_125.014"/>
Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen:</p>
            <lb n="pwo_125.015"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, <lb n="pwo_125.016"/>
komm her!&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_125.017"/>
            <p>Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt <lb n="pwo_125.018"/>
und klingt wieder. So:</p>
            <lb n="pwo_125.019"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_125.020"/>
            <p>Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß:</p>
            <lb n="pwo_125.021"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken <lb n="pwo_125.022"/>
an dir.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_125.023"/>
            <p>Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als <foreign xml:lang="grc">&#x0391;</foreign> und <foreign xml:lang="grc">&#x03A9;</foreign> der Partie <lb n="pwo_125.024"/>
hervor.</p>
            <lb n="pwo_125.025"/>
            <p>  Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; <lb n="pwo_125.026"/>
die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter <lb n="pwo_125.027"/>
platz.</p>
            <lb n="pwo_125.028"/>
            <p>  Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den <lb n="pwo_125.029"/>
Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend <lb n="pwo_125.030"/>
lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische <lb n="pwo_125.031"/>
Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische <lb n="pwo_125.032"/>
Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:</p>
            <lb n="pwo_125.033"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.</hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[125/0139] pwo_125.001 Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in pwo_125.002 Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes pwo_125.003 weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen pwo_125.004 zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion pwo_125.005 bereits die Klage: pwo_125.006 „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.“ pwo_125.007 Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied pwo_125.008 spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, pwo_125.009 als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An pwo_125.010 einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf: pwo_125.011 „Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!“ pwo_125.012 Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald pwo_125.013 mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen pwo_125.014 Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen: pwo_125.015 „Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, pwo_125.016 komm her!“ pwo_125.017 Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt pwo_125.018 und klingt wieder. So: pwo_125.019   „Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du.“ pwo_125.020 Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß: pwo_125.021 „Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken pwo_125.022 an dir.“ pwo_125.023 Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als Α und Ω der Partie pwo_125.024 hervor. pwo_125.025   Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; pwo_125.026 die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter pwo_125.027 platz. pwo_125.028   Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den pwo_125.029 Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend pwo_125.030 lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische pwo_125.031 Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische pwo_125.032 Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt: pwo_125.033   „Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/139
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/139>, abgerufen am 23.11.2024.