Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_093.001 pwo_093.003 Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung pwo_093.004 Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen pwo_093.009 Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender pwo_093.020 "Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken, pwo_093.026 pwo_093.037Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken. pwo_093.027 Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist; pwo_093.028 Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist; pwo_093.029 Getroffen ward er von des Schicksals Streichen, pwo_093.030 Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen? pwo_093.031 Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld, pwo_093.032 Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld, pwo_093.033 Daß sich nach dir die Augen vieler wenden pwo_093.034 Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen. pwo_093.035 Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm: pwo_093.036 Nein, sie ist der Propheten Eigentum." Erst nach solcher ethischen Einführung setzt die eigentliche Erzählung pwo_093.038 pwo_093.001 pwo_093.003 Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung pwo_093.004 Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen pwo_093.009 Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender pwo_093.020 „Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken, pwo_093.026 pwo_093.037Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken. pwo_093.027 Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist; pwo_093.028 Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist; pwo_093.029 Getroffen ward er von des Schicksals Streichen, pwo_093.030 Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen? pwo_093.031 Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld, pwo_093.032 Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld, pwo_093.033 Daß sich nach dir die Augen vieler wenden pwo_093.034 Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen. pwo_093.035 Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm: pwo_093.036 Nein, sie ist der Propheten Eigentum.“ Erst nach solcher ethischen Einführung setzt die eigentliche Erzählung pwo_093.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0107" n="93"/><lb n="pwo_093.001"/> plastischen Gestalten entbehrt und in das Reich der Allegorie hinüberleitet.</p> <lb n="pwo_093.002"/> <lb n="pwo_093.003"/> <p> Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung <lb n="pwo_093.004"/> menschlicher Verhältnisse kommen auf epischem Gebiet seit Beginn <lb n="pwo_093.005"/> der lyrischen Blüte zur Verwendung. Die Batrachomyomachie <lb n="pwo_093.006"/> bietet ein besonders augenfälliges Zeugnis von der Parodie des <lb n="pwo_093.007"/> heroischen Stils. –</p> <lb n="pwo_093.008"/> <p> Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des <hi rendition="#g">persischen</hi> <lb n="pwo_093.009"/> Epos. Nach Firdusis Zeiten treten die verschiedensten Anzeichen <lb n="pwo_093.010"/> einer beginnenden Entartung des epischen Stils hervor. Virtuoses <lb n="pwo_093.011"/> <hi rendition="#g">Spiel</hi> mit Worten und Bildern, formale <hi rendition="#g">Effekthascherei</hi> <lb n="pwo_093.012"/> läßt schon äußerlich die Verflüchtigung des ernsten Heroengeistes erkennen. <lb n="pwo_093.013"/> Unentrinnbar dringen <hi rendition="#g">didaktische</hi> Neigungen vor. Eine <lb n="pwo_093.014"/> glänzende Erscheinung wie Nizami repräsentiert den <hi rendition="#g">phantastischen</hi> <lb n="pwo_093.015"/> Geist, der zweihundert Jahre nach Firdusi zu voller Herrschaft gelangt <lb n="pwo_093.016"/> ist: wieder mehr <hi rendition="#g">Abenteuer</hi> als nationale Heldenthaten, die <hi rendition="#g">Liebe</hi> <lb n="pwo_093.017"/> als ein ausschlaggebender Faktor im Ritterleben, mehr ein Zug zum <lb n="pwo_093.018"/> Jdyllischen als zum Erhabenen, Großen.</p> <lb n="pwo_093.019"/> <p> Die <hi rendition="#g">Vergeistigung</hi> des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender <lb n="pwo_093.020"/> Prozeß in jedem Völkerleben, wirkt doch auf die echte epische <lb n="pwo_093.021"/> Form auflösend. Mit Saadi ist die persische Litteratur voll und bewußt <lb n="pwo_093.022"/> in das Zeichen des Geistes getreten: die Erzählung ist zur <lb n="pwo_093.023"/> bloßen Jllustration einer sittlichen Wahrheit herabgedrückt. Mit ihr <lb n="pwo_093.024"/> hebt er an:</p> <lb n="pwo_093.025"/> <lg> <l>„Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken,</l> <lb n="pwo_093.026"/> <l>Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken.</l> <lb n="pwo_093.027"/> <l>Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist;</l> <lb n="pwo_093.028"/> <l>Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist;</l> <lb n="pwo_093.029"/> <l>Getroffen ward er von des Schicksals Streichen,</l> <lb n="pwo_093.030"/> <l>Kann dich des Schicksals Schwert nicht auch erreichen?</l> <lb n="pwo_093.031"/> <l>Siehst Tausende du fleh'n nach deiner Huld,</l> <lb n="pwo_093.032"/> <l>Dem Herrn bezahle du des Dankes Schuld,</l> <lb n="pwo_093.033"/> <l>Daß sich nach dir die Augen vieler wenden</l> <lb n="pwo_093.034"/> <l>Und nicht dein Auge blickt nach andrer Händen.</l> <lb n="pwo_093.035"/> <l>Die Großmut, sagt' ich, sei der Großen Ruhm:</l> <lb n="pwo_093.036"/> <l>Nein, sie ist der Propheten Eigentum.“</l> </lg> <lb n="pwo_093.037"/> <p>Erst nach solcher ethischen Einführung setzt die eigentliche Erzählung <lb n="pwo_093.038"/> ein:</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0107]
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plastischen Gestalten entbehrt und in das Reich der Allegorie hinüberleitet.
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Sowohl rein allegorische Stücke wie Tiererzählungen zur Spiegelung pwo_093.004
menschlicher Verhältnisse kommen auf epischem Gebiet seit Beginn pwo_093.005
der lyrischen Blüte zur Verwendung. Die Batrachomyomachie pwo_093.006
bietet ein besonders augenfälliges Zeugnis von der Parodie des pwo_093.007
heroischen Stils. –
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Jn ähnlichen Grundzügen bewegt sich die Entwicklung des persischen pwo_093.009
Epos. Nach Firdusis Zeiten treten die verschiedensten Anzeichen pwo_093.010
einer beginnenden Entartung des epischen Stils hervor. Virtuoses pwo_093.011
Spiel mit Worten und Bildern, formale Effekthascherei pwo_093.012
läßt schon äußerlich die Verflüchtigung des ernsten Heroengeistes erkennen. pwo_093.013
Unentrinnbar dringen didaktische Neigungen vor. Eine pwo_093.014
glänzende Erscheinung wie Nizami repräsentiert den phantastischen pwo_093.015
Geist, der zweihundert Jahre nach Firdusi zu voller Herrschaft gelangt pwo_093.016
ist: wieder mehr Abenteuer als nationale Heldenthaten, die Liebe pwo_093.017
als ein ausschlaggebender Faktor im Ritterleben, mehr ein Zug zum pwo_093.018
Jdyllischen als zum Erhabenen, Großen.
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Die Vergeistigung des Lebens, ein so bedeutsamer und erhebender pwo_093.020
Prozeß in jedem Völkerleben, wirkt doch auf die echte epische pwo_093.021
Form auflösend. Mit Saadi ist die persische Litteratur voll und bewußt pwo_093.022
in das Zeichen des Geistes getreten: die Erzählung ist zur pwo_093.023
bloßen Jllustration einer sittlichen Wahrheit herabgedrückt. Mit ihr pwo_093.024
hebt er an:
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„Kannst du's, laß nie vom Mitleid ab dich lenken, pwo_093.026
Wer Mitleid schenkt, dem wird man Mitleid schenken. pwo_093.027
Sei stolz nicht darauf, daß du gütig bist; pwo_093.028
Weil du so hoch, wie andere, niedrig bist; pwo_093.029
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Nein, sie ist der Propheten Eigentum.“
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Zitationshilfe: | Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/107>, abgerufen am 27.07.2024. |