Wolff, Christian von: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen. Halle (Saale), 1721.Cap. 3. Von der Einrichtung Gelegenheit erhalten/ den andern entwe-der um das Leben zu bringen, oder zuver- wunden. Allein das würde etwas seyn, wenn er stille halten müste und sich nicht wehren dörffte. Da er aber sowohl auf uns, als wir auf ihn loß gehen; so kan uns das Unglück so leicht, als ihn treffen, und, wenn dieses geschiehet, sind wir gar schlecht zufrieden gestellet. Es ist auch ein großer Jrrthum, daß man es als ein Zeichen sei- ner Tapfferkeit ansiehet, wenn man den andern wegen einer jeden, öffters gerin- gen, ja nichts würdigen Beleidigung bald heraus fordert. Denn wer bey instehen- der Gefahr seine Furcht zu mäßigen weiß, und also auch weder Lebens- noch Leibes- Gefahr scheuet, wo er sie nicht vermeiden kan, der ist behertzt oder tapffer (§. 647. Mor.). Hingegen sich ohne Noth muth- williger Weise in Leibes- oder Lebens-Ge- fahr begeben, die man zu vermeiden ver- bunden ist (§. 438. Mor.), wird niemand für eine Tapfferkeit auslegen können. Ja wollte man es gleich eine Tapfferkeit nen- nen, so könnte der Nahme doch nicht löb- lich machen, was an sich tadelhafft ist. Denn da wir verbunden sind, wie erst er- wehnet worden, alle Leibes und Lebens- Gefahr zu vermeiden, wenn es in unsercr Gewalt stehet: so kan uns nicht erlaubet seyn, uns ohne Noth darein zu wagen. Und sol-
Cap. 3. Von der Einrichtung Gelegenheit erhalten/ den andern entwe-der um das Leben zu bringen, oder zuver- wunden. Allein das wuͤrde etwas ſeyn, wenn er ſtille halten muͤſte und ſich nicht wehren doͤrffte. Da er aber ſowohl auf uns, als wir auf ihn loß gehen; ſo kan uns das Ungluͤck ſo leicht, als ihn treffen, und, wenn dieſes geſchiehet, ſind wir gar ſchlecht zufrieden geſtellet. Es iſt auch ein großer Jrrthum, daß man es als ein Zeichen ſei- ner Tapfferkeit anſiehet, wenn man den andern wegen einer jeden, oͤffters gerin- gen, ja nichts wuͤrdigen Beleidigung bald heraus fordert. Denn wer bey inſtehen- der Gefahr ſeine Furcht zu maͤßigen weiß, und alſo auch weder Lebens- noch Leibes- Gefahr ſcheuet, wo er ſie nicht vermeiden kan, der iſt behertzt oder tapffer (§. 647. Mor.). Hingegen ſich ohne Noth muth- williger Weiſe in Leibes- oder Lebens-Ge- fahr begeben, die man zu vermeiden ver- bunden iſt (§. 438. Mor.), wird niemand fuͤr eine Tapfferkeit auslegen koͤnnen. Ja wollte man es gleich eine Tapfferkeit nen- nen, ſo koͤnnte der Nahme doch nicht loͤb- lich machen, was an ſich tadelhafft iſt. Denn da wir verbunden ſind, wie erſt er- wehnet worden, alle Leibes und Lebens- Gefahr zu vermeiden, wenn es in unſercr Gewalt ſtehet: ſo kan uns nicht erlaubet ſeyn, uns ohne Noth darein zu wagen. Und ſol-
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Cap. 3. Von der Einrichtung
Gelegenheit erhalten/ den andern entwe-
der um das Leben zu bringen, oder zuver-
wunden. Allein das wuͤrde etwas ſeyn,
wenn er ſtille halten muͤſte und ſich nicht
wehren doͤrffte. Da er aber ſowohl auf
uns, als wir auf ihn loß gehen; ſo kan uns
das Ungluͤck ſo leicht, als ihn treffen, und,
wenn dieſes geſchiehet, ſind wir gar ſchlecht
zufrieden geſtellet. Es iſt auch ein großer
Jrrthum, daß man es als ein Zeichen ſei-
ner Tapfferkeit anſiehet, wenn man den
andern wegen einer jeden, oͤffters gerin-
gen, ja nichts wuͤrdigen Beleidigung bald
heraus fordert. Denn wer bey inſtehen-
der Gefahr ſeine Furcht zu maͤßigen weiß,
und alſo auch weder Lebens- noch Leibes-
Gefahr ſcheuet, wo er ſie nicht vermeiden
kan, der iſt behertzt oder tapffer (§. 647.
Mor.). Hingegen ſich ohne Noth muth-
williger Weiſe in Leibes- oder Lebens-Ge-
fahr begeben, die man zu vermeiden ver-
bunden iſt (§. 438. Mor.), wird niemand
fuͤr eine Tapfferkeit auslegen koͤnnen. Ja
wollte man es gleich eine Tapfferkeit nen-
nen, ſo koͤnnte der Nahme doch nicht loͤb-
lich machen, was an ſich tadelhafft iſt.
Denn da wir verbunden ſind, wie erſt er-
wehnet worden, alle Leibes und Lebens-
Gefahr zu vermeiden, wenn es in unſercr
Gewalt ſtehet: ſo kan uns nicht erlaubet
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