Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Sabattia Joseph: Ausverkauf meiner schriftstellerischen Arbeiten. Berlin, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite



und den Sünder dennoch hören, wenn es auch nur
der Form wegen geschieht.

Sehr weise! riefen Tyger und Krokodill einstim-
mig; sehr weise! wiederholte der beherzte Hase, nach-
dem er sich einige Mahle erst umgesehen hatte, und
so begab man sich in gewöhnlicher Ordnung in den
überfüllten Saal zur Sitzung.

Das Schaf erschien. Von seinem Sitze erhob
sich der Fuchs, und hielt abermahls eine wohlgeord-
nete Rede, worin die Ermahnung, vor Gericht die
Wahrheit zu sagen, und wie man sich durch ein
freiwilliges Geständniß die Strafe erleichtern könne,
das Wesentliche war.

Das kluge Schaf verstand weder den Redner noch
die Rede; es wußte nicht ein Mahl, warum es sich
handelte, zitterte, seiner Schafnatur gemäß, wie
ein Espenlaub, und gestand endlich so ganz schaf-
köpfig, daß es sich einer gar großen Sünde bewußt
und bereit sey, sie freiwillig zu bekennen. -- Hört!
Hört! erscholl es, triumphirend sahen die Kommissarien
einander an, und in der Versammlung entstand ein
so lautes Gemurmel, daß Stille geboten werden
mußte. Als dem Schafe das Wort überlassen
war, herrschte eine Todtenstille rings im Saale.

Es war, so begann das unglückliche Schaf,
am Ende des Monats April; Felder, Fluren, Wie-
sen und Haine lagen noch im tiefen Schnee begra-



und den Sünder dennoch hören, wenn es auch nur
der Form wegen geſchieht.

Sehr weiſe! riefen Tyger und Krokodill einſtim-
mig; ſehr weiſe! wiederholte der beherzte Haſe, nach-
dem er ſich einige Mahle erſt umgeſehen hatte, und
ſo begab man ſich in gewöhnlicher Ordnung in den
überfüllten Saal zur Sitzung.

Das Schaf erſchien. Von ſeinem Sitze erhob
ſich der Fuchs, und hielt abermahls eine wohlgeord-
nete Rede, worin die Ermahnung, vor Gericht die
Wahrheit zu ſagen, und wie man ſich durch ein
freiwilliges Geſtändniß die Strafe erleichtern könne,
das Weſentliche war.

Das kluge Schaf verſtand weder den Redner noch
die Rede; es wußte nicht ein Mahl, warum es ſich
handelte, zitterte, ſeiner Schafnatur gemäß, wie
ein Eſpenlaub, und geſtand endlich ſo ganz ſchaf-
köpfig, daß es ſich einer gar großen Sünde bewußt
und bereit ſey, ſie freiwillig zu bekennen. — Hört!
Hört! erſcholl es, triumphirend ſahen die Kommiſſarien
einander an, und in der Verſammlung entſtand ein
ſo lautes Gemurmel, daß Stille geboten werden
mußte. Als dem Schafe das Wort überlaſſen
war, herrſchte eine Todtenſtille rings im Saale.

Es war, ſo begann das unglückliche Schaf,
am Ende des Monats April; Felder, Fluren, Wie-
ſen und Haine lagen noch im tiefen Schnee begra-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0087" n="71"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
und den Sünder dennoch hören, wenn es auch nur<lb/>
der Form wegen ge&#x017F;chieht.</p><lb/>
          <p>Sehr wei&#x017F;e! riefen Tyger und Krokodill ein&#x017F;tim-<lb/>
mig; &#x017F;ehr wei&#x017F;e! wiederholte der beherzte Ha&#x017F;e, nach-<lb/>
dem er &#x017F;ich einige Mahle er&#x017F;t umge&#x017F;ehen hatte, und<lb/>
&#x017F;o begab man &#x017F;ich in gewöhnlicher Ordnung in den<lb/>
überfüllten Saal zur Sitzung.</p><lb/>
          <p>Das Schaf er&#x017F;chien. Von &#x017F;einem Sitze erhob<lb/>
&#x017F;ich der Fuchs, und hielt abermahls eine wohlgeord-<lb/>
nete Rede, worin die Ermahnung, vor Gericht die<lb/>
Wahrheit zu &#x017F;agen, und wie man &#x017F;ich durch ein<lb/>
freiwilliges Ge&#x017F;tändniß die Strafe erleichtern könne,<lb/>
das We&#x017F;entliche war.</p><lb/>
          <p>Das kluge Schaf ver&#x017F;tand weder den Redner noch<lb/>
die Rede; es wußte nicht ein Mahl, warum es &#x017F;ich<lb/>
handelte, zitterte, &#x017F;einer Schafnatur gemäß, wie<lb/>
ein E&#x017F;penlaub, und ge&#x017F;tand endlich &#x017F;o ganz &#x017F;chaf-<lb/>
köpfig, daß es &#x017F;ich einer gar großen Sünde bewußt<lb/>
und bereit &#x017F;ey, &#x017F;ie freiwillig zu bekennen. &#x2014; Hört!<lb/>
Hört! er&#x017F;choll es, triumphirend &#x017F;ahen die Kommi&#x017F;&#x017F;arien<lb/>
einander an, und in der Ver&#x017F;ammlung ent&#x017F;tand ein<lb/>
&#x017F;o lautes Gemurmel, daß Stille geboten werden<lb/>
mußte. Als dem Schafe das Wort überla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
war, herr&#x017F;chte eine Todten&#x017F;tille rings im Saale.</p><lb/>
          <p>Es war, &#x017F;o begann das unglückliche Schaf,<lb/>
am Ende des Monats April; Felder, Fluren, Wie-<lb/>
&#x017F;en und Haine lagen noch im tiefen Schnee begra-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0087] und den Sünder dennoch hören, wenn es auch nur der Form wegen geſchieht. Sehr weiſe! riefen Tyger und Krokodill einſtim- mig; ſehr weiſe! wiederholte der beherzte Haſe, nach- dem er ſich einige Mahle erſt umgeſehen hatte, und ſo begab man ſich in gewöhnlicher Ordnung in den überfüllten Saal zur Sitzung. Das Schaf erſchien. Von ſeinem Sitze erhob ſich der Fuchs, und hielt abermahls eine wohlgeord- nete Rede, worin die Ermahnung, vor Gericht die Wahrheit zu ſagen, und wie man ſich durch ein freiwilliges Geſtändniß die Strafe erleichtern könne, das Weſentliche war. Das kluge Schaf verſtand weder den Redner noch die Rede; es wußte nicht ein Mahl, warum es ſich handelte, zitterte, ſeiner Schafnatur gemäß, wie ein Eſpenlaub, und geſtand endlich ſo ganz ſchaf- köpfig, daß es ſich einer gar großen Sünde bewußt und bereit ſey, ſie freiwillig zu bekennen. — Hört! Hört! erſcholl es, triumphirend ſahen die Kommiſſarien einander an, und in der Verſammlung entſtand ein ſo lautes Gemurmel, daß Stille geboten werden mußte. Als dem Schafe das Wort überlaſſen war, herrſchte eine Todtenſtille rings im Saale. Es war, ſo begann das unglückliche Schaf, am Ende des Monats April; Felder, Fluren, Wie- ſen und Haine lagen noch im tiefen Schnee begra-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_ausverkauf_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_ausverkauf_1824/87
Zitationshilfe: Wolff, Sabattia Joseph: Ausverkauf meiner schriftstellerischen Arbeiten. Berlin, 1824, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_ausverkauf_1824/87>, abgerufen am 22.11.2024.