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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

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II Theil. Von der Griechischen Kunst
aus Samos von demselben. Alle diese Werke aber wurden vermuthlich
vernichtet in der Eroberung dieser Stadt, unter Balduino, zu Anfang
des dreyzehenden Jahrhunderts: denn wir wissen, daß die Statuen von
Erzt zerschmolzen, und zu Münzen verpräget wurden, und ein Geschicht-
schreiber dieser Zeit thut hier sonderlich der Samischen Juno Meldung 1).
Jch halte es für eine Hyperbole, wenn derselbe sagt, daß der bloße Kopf
der Statue, nachdem er zerschlagen worden, auf vier Wagen habe müssen
weggeführet werden; aber es bleibt für die Wahrscheinlichkeit ein Begriff
von einem sehr großen Werke übrig.



Beschluß
dieses zweyten
Theils.

Jch bin in der Geschichte der Kunst schon über ihre Gränzen gegan-
gen, und ohngeachtet mir bey Betrachtung des Untergangs derselben fast
zu Muthe gewesen ist, wie demjenigen, der in Beschreibung der Geschich-
te seines Vaterlandes die Zerstörung desselben, die er selbst erlebet hat,
berühren müßte, so konnte ich mich dennoch nicht enthalten, dem Schick-
sale der Werke der Kunst, so weit mein Auge gieng, nachzusehen. So
wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, oh-
ne Hofnung ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolget, und
selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt.
Wir haben, wie die Geliebte, gleichsam nur einen Schattenriß von dem
Vorwurfe unsrer Wünsche übrig; aber desto größere Sehnsucht nach dem
Verlohrnen erwecket derselbe, und wir betrachten die Copien der Urbil-
der mit größerer Aufmerksamkeit, als wie wir in dem völligen Besitze von
diesen nicht würden gethan haben. Es geht uns hier vielmals, wie Leu-
ten, die Gespenster kennen wollen, und zu sehen glauben, wo nichts ist:
der Name des Alterthums ist zum Vorurtheil geworden; aber auch dieses

Vorur-
1) Fragm. hist. Mich. Choniatae ap. Fabric. Biblioth. Graeca, T. 6. p. 406.

II Theil. Von der Griechiſchen Kunſt
aus Samos von demſelben. Alle dieſe Werke aber wurden vermuthlich
vernichtet in der Eroberung dieſer Stadt, unter Balduino, zu Anfang
des dreyzehenden Jahrhunderts: denn wir wiſſen, daß die Statuen von
Erzt zerſchmolzen, und zu Muͤnzen verpraͤget wurden, und ein Geſchicht-
ſchreiber dieſer Zeit thut hier ſonderlich der Samiſchen Juno Meldung 1).
Jch halte es fuͤr eine Hyperbole, wenn derſelbe ſagt, daß der bloße Kopf
der Statue, nachdem er zerſchlagen worden, auf vier Wagen habe muͤſſen
weggefuͤhret werden; aber es bleibt fuͤr die Wahrſcheinlichkeit ein Begriff
von einem ſehr großen Werke uͤbrig.



Beſchluß
dieſes zweyten
Theils.

Jch bin in der Geſchichte der Kunſt ſchon uͤber ihre Graͤnzen gegan-
gen, und ohngeachtet mir bey Betrachtung des Untergangs derſelben faſt
zu Muthe geweſen iſt, wie demjenigen, der in Beſchreibung der Geſchich-
te ſeines Vaterlandes die Zerſtoͤrung deſſelben, die er ſelbſt erlebet hat,
beruͤhren muͤßte, ſo konnte ich mich dennoch nicht enthalten, dem Schick-
ſale der Werke der Kunſt, ſo weit mein Auge gieng, nachzuſehen. So
wie eine Liebſte an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, oh-
ne Hofnung ihn wieder zu ſehen, mit bethraͤnten Augen verfolget, und
ſelbſt in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu ſehen glaubt.
Wir haben, wie die Geliebte, gleichſam nur einen Schattenriß von dem
Vorwurfe unſrer Wuͤnſche uͤbrig; aber deſto groͤßere Sehnſucht nach dem
Verlohrnen erwecket derſelbe, und wir betrachten die Copien der Urbil-
der mit groͤßerer Aufmerkſamkeit, als wie wir in dem voͤlligen Beſitze von
dieſen nicht wuͤrden gethan haben. Es geht uns hier vielmals, wie Leu-
ten, die Geſpenſter kennen wollen, und zu ſehen glauben, wo nichts iſt:
der Name des Alterthums iſt zum Vorurtheil geworden; aber auch dieſes

Vorur-
1) Fragm. hiſt. Mich. Choniatae ap. Fabric. Biblioth. Graeca, T. 6. p. 406.
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[430/0118] II Theil. Von der Griechiſchen Kunſt aus Samos von demſelben. Alle dieſe Werke aber wurden vermuthlich vernichtet in der Eroberung dieſer Stadt, unter Balduino, zu Anfang des dreyzehenden Jahrhunderts: denn wir wiſſen, daß die Statuen von Erzt zerſchmolzen, und zu Muͤnzen verpraͤget wurden, und ein Geſchicht- ſchreiber dieſer Zeit thut hier ſonderlich der Samiſchen Juno Meldung 1). Jch halte es fuͤr eine Hyperbole, wenn derſelbe ſagt, daß der bloße Kopf der Statue, nachdem er zerſchlagen worden, auf vier Wagen habe muͤſſen weggefuͤhret werden; aber es bleibt fuͤr die Wahrſcheinlichkeit ein Begriff von einem ſehr großen Werke uͤbrig. Jch bin in der Geſchichte der Kunſt ſchon uͤber ihre Graͤnzen gegan- gen, und ohngeachtet mir bey Betrachtung des Untergangs derſelben faſt zu Muthe geweſen iſt, wie demjenigen, der in Beſchreibung der Geſchich- te ſeines Vaterlandes die Zerſtoͤrung deſſelben, die er ſelbſt erlebet hat, beruͤhren muͤßte, ſo konnte ich mich dennoch nicht enthalten, dem Schick- ſale der Werke der Kunſt, ſo weit mein Auge gieng, nachzuſehen. So wie eine Liebſte an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, oh- ne Hofnung ihn wieder zu ſehen, mit bethraͤnten Augen verfolget, und ſelbſt in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu ſehen glaubt. Wir haben, wie die Geliebte, gleichſam nur einen Schattenriß von dem Vorwurfe unſrer Wuͤnſche uͤbrig; aber deſto groͤßere Sehnſucht nach dem Verlohrnen erwecket derſelbe, und wir betrachten die Copien der Urbil- der mit groͤßerer Aufmerkſamkeit, als wie wir in dem voͤlligen Beſitze von dieſen nicht wuͤrden gethan haben. Es geht uns hier vielmals, wie Leu- ten, die Geſpenſter kennen wollen, und zu ſehen glauben, wo nichts iſt: der Name des Alterthums iſt zum Vorurtheil geworden; aber auch dieſes Vorur- 1) Fragm. hiſt. Mich. Choniatae ap. Fabric. Biblioth. Graeca, T. 6. p. 406.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/118>, abgerufen am 25.11.2024.