Man muß also in Beurtheilung der natürlichen Fähigkeit der Völker,C. Verschieden- heit der Erzie- hung, Verfas- sung und Re- gierung der Bölker. und hier insbesondere der Griechen, nicht bloß allein den Einfluß des Himmels, sondern auch die Erziehung und Regierung in Betrachtung ziehen. Denn die äußeren Umstände wirken nicht weniger in uns, als die Luft, die uns umgiebt, und die Gewohnheit hat so viel Macht über uns, daß sie so gar den Körper und die Sinne selbst, von der Natur in uns ge- schaffen, auf eine besondere Art bildet; wie unter andern ein an Französi- sche Music gewöhntes Ohr beweiset, welches durch die zärtlichste Italieni- sche Music nicht gerühret wird.
Eben daher rühret die Verschiedenheit auch unter den GriechischenD. Der Griechen. Völkern in Griechenland selbst, welche 1) Polybius in Absicht der Führung des Krieges und der Tapferkeit anzeiget. Die Thessalier waren gute Krieger, wo sie mit kleinen Haufen angreifen konnten, aber in einer förmlichen Schlacht-Ordnung hielten sie nicht lange Stand: bey den Aetoliern war das Gegentheil. Die Cretenser waren unvergleichlich im Hinterhalt, oder in Ausführungen, wo es auf die List ankam, oder sonst dem Feinde Ab- bruch zu thun; sie waren aber nicht zu gebrauchen, wo die Tapferkeit al- lein entscheiden mußte: bey den Achajern hingegen und Macedoniern war es umgekehrt. Die Arcadier waren durch ihre ältesten Gesetze verbunden, alle die Music zu lernen, und dieselbe bis in das dreyßigste Jahr ihres Alters beständig zu treiben, um die Gemüther und Sitten, welche wegen des rauhen Himmels in ihrem gebürgigten Lande, störrisch und wild ge- wesen seyn würden, sanft und liebreich zu machen; und sie waren daher die redlichsten und wohlgesittetsten Menschen unter allen Griechen. Die Cynäther allein unter ihnen, welche von dieser Verfassung abgiengen, und
die
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Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt.
Man muß alſo in Beurtheilung der natuͤrlichen Faͤhigkeit der Voͤlker,C. Verſchieden- heit der Erzie- hung, Verfaſ- ſung und Re- gierung der Boͤlker. und hier insbeſondere der Griechen, nicht bloß allein den Einfluß des Himmels, ſondern auch die Erziehung und Regierung in Betrachtung ziehen. Denn die aͤußeren Umſtaͤnde wirken nicht weniger in uns, als die Luft, die uns umgiebt, und die Gewohnheit hat ſo viel Macht uͤber uns, daß ſie ſo gar den Koͤrper und die Sinne ſelbſt, von der Natur in uns ge- ſchaffen, auf eine beſondere Art bildet; wie unter andern ein an Franzoͤſi- ſche Muſic gewoͤhntes Ohr beweiſet, welches durch die zaͤrtlichſte Italieni- ſche Muſic nicht geruͤhret wird.
Eben daher ruͤhret die Verſchiedenheit auch unter den GriechiſchenD. Der Gꝛiechen. Voͤlkern in Griechenland ſelbſt, welche 1) Polybius in Abſicht der Fuͤhrung des Krieges und der Tapferkeit anzeiget. Die Theſſalier waren gute Krieger, wo ſie mit kleinen Haufen angreifen konnten, aber in einer foͤrmlichen Schlacht-Ordnung hielten ſie nicht lange Stand: bey den Aetoliern war das Gegentheil. Die Cretenſer waren unvergleichlich im Hinterhalt, oder in Ausfuͤhrungen, wo es auf die Liſt ankam, oder ſonſt dem Feinde Ab- bruch zu thun; ſie waren aber nicht zu gebrauchen, wo die Tapferkeit al- lein entſcheiden mußte: bey den Achajern hingegen und Macedoniern war es umgekehrt. Die Arcadier waren durch ihre aͤlteſten Geſetze verbunden, alle die Muſic zu lernen, und dieſelbe bis in das dreyßigſte Jahr ihres Alters beſtaͤndig zu treiben, um die Gemuͤther und Sitten, welche wegen des rauhen Himmels in ihrem gebuͤrgigten Lande, ſtoͤrriſch und wild ge- weſen ſeyn wuͤrden, ſanft und liebreich zu machen; und ſie waren daher die redlichſten und wohlgeſittetſten Menſchen unter allen Griechen. Die Cynaͤther allein unter ihnen, welche von dieſer Verfaſſung abgiengen, und
die
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Von dem Urſprunge und Anfange der Kunſt.
Man muß alſo in Beurtheilung der natuͤrlichen Faͤhigkeit der Voͤlker,
und hier insbeſondere der Griechen, nicht bloß allein den Einfluß des
Himmels, ſondern auch die Erziehung und Regierung in Betrachtung
ziehen. Denn die aͤußeren Umſtaͤnde wirken nicht weniger in uns, als die
Luft, die uns umgiebt, und die Gewohnheit hat ſo viel Macht uͤber uns,
daß ſie ſo gar den Koͤrper und die Sinne ſelbſt, von der Natur in uns ge-
ſchaffen, auf eine beſondere Art bildet; wie unter andern ein an Franzoͤſi-
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ſche Muſic nicht geruͤhret wird.
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gierung der
Boͤlker.
Eben daher ruͤhret die Verſchiedenheit auch unter den Griechiſchen
Voͤlkern in Griechenland ſelbſt, welche 1) Polybius in Abſicht der Fuͤhrung
des Krieges und der Tapferkeit anzeiget. Die Theſſalier waren gute Krieger,
wo ſie mit kleinen Haufen angreifen konnten, aber in einer foͤrmlichen
Schlacht-Ordnung hielten ſie nicht lange Stand: bey den Aetoliern war
das Gegentheil. Die Cretenſer waren unvergleichlich im Hinterhalt, oder
in Ausfuͤhrungen, wo es auf die Liſt ankam, oder ſonſt dem Feinde Ab-
bruch zu thun; ſie waren aber nicht zu gebrauchen, wo die Tapferkeit al-
lein entſcheiden mußte: bey den Achajern hingegen und Macedoniern war
es umgekehrt. Die Arcadier waren durch ihre aͤlteſten Geſetze verbunden,
alle die Muſic zu lernen, und dieſelbe bis in das dreyßigſte Jahr ihres
Alters beſtaͤndig zu treiben, um die Gemuͤther und Sitten, welche wegen
des rauhen Himmels in ihrem gebuͤrgigten Lande, ſtoͤrriſch und wild ge-
weſen ſeyn wuͤrden, ſanft und liebreich zu machen; und ſie waren daher
die redlichſten und wohlgeſittetſten Menſchen unter allen Griechen. Die
Cynaͤther allein unter ihnen, welche von dieſer Verfaſſung abgiengen, und
die
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Der Gꝛiechen.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/77>, abgerufen am 28.07.2024.
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