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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Erstes Capitel.
stimmte und unbedeutende Züge des Gesichts, wie häufig jenseits der Alpen,
sondern sie sind theils erhaben, theils geistreich, und die Form des Gesichts
ist mehrentheils groß und völlig, und die Theile derselben in Uebereinstim-
mung. Diese vorzügliche Bildung ist so augenscheinlich, daß der Kopf des
geringsten Mannes unter dem Pöbel in dem erhabensten historischen Gemäl-
de könnte angebracht werden, und unter den Weibern dieses Standes würde
es nicht schwer seyn, auch an den geringsten Orten ein Bild zu einer Juno
zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Länder von Italien, einen sanf-
ten Himmel, und eine gleichere und gemäßigtere Witterung genießet, weil
es dem Himmelsstriche, unter welchem das eigentliche Griechenland lieget,
sehr nahe ist, hat häufig Formen und Bildungen, die zum Modell eines
schönen Ideals dienen können, und welche in Absicht der Form des Ge-
sichts, und sonderlich der stark bezeichneten und harmonischen Theile dessel-
ben, gleichsam zur Bildhauerey erschaffen zu seyn scheinen.

E.
Bildung
der Schönheit
unter einem
wärmeren
Himmel.

Wer auch niemals diese Nation gesehen, kann aus der zunehmenden
Feinheit derselben, je wärmer das Clima ist, von selbst und gründlich auf
die geistreiche Bildung derselben schließen: die Neapolitaner sind feiner und
schlauer noch, als die Römer, und die Sicilianer mehr, als jene; die Grie-
chen aber übertreffen selbst die Sicilianer. Je reiner und dünner die Luft
ist, sagt Cicero 1), desto feiner sind die Köpfe.

Es findet sich also die hohe Schönheit, die nicht bloß in einer sanften
Haut, in einer blühenden Farbe, in leichtfertigen oder schmachtenden Au-
gen, sondern in der Bildung und in der Form bestehet, häufiger in Län-
dern, die einen gleichgütigen Himmel genießen. Wenn also nur die Italie-
ner die Schönheit malen und bilden können, wie ein Englischer Scribent von
Stande saget, so lieget in den schönen Bildungen des Landes selbst zum Theil der
Grund zu dieser Fähigkeit, welche durch eine anschauliche tägliche Erkennt-
niß leichter erlanget werden kann. Unterdessen war die vollkommene

Schön-
1) De nat. deor. L. 2. c. 16.

I Theil. Erſtes Capitel.
ſtimmte und unbedeutende Zuͤge des Geſichts, wie haͤufig jenſeits der Alpen,
ſondern ſie ſind theils erhaben, theils geiſtreich, und die Form des Geſichts
iſt mehrentheils groß und voͤllig, und die Theile derſelben in Uebereinſtim-
mung. Dieſe vorzuͤgliche Bildung iſt ſo augenſcheinlich, daß der Kopf des
geringſten Mannes unter dem Poͤbel in dem erhabenſten hiſtoriſchen Gemaͤl-
de koͤnnte angebracht werden, und unter den Weibern dieſes Standes wuͤrde
es nicht ſchwer ſeyn, auch an den geringſten Orten ein Bild zu einer Juno
zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Laͤnder von Italien, einen ſanf-
ten Himmel, und eine gleichere und gemaͤßigtere Witterung genießet, weil
es dem Himmelsſtriche, unter welchem das eigentliche Griechenland lieget,
ſehr nahe iſt, hat haͤufig Formen und Bildungen, die zum Modell eines
ſchoͤnen Ideals dienen koͤnnen, und welche in Abſicht der Form des Ge-
ſichts, und ſonderlich der ſtark bezeichneten und harmoniſchen Theile deſſel-
ben, gleichſam zur Bildhauerey erſchaffen zu ſeyn ſcheinen.

E.
Bildung
der Schoͤnheit
unter einem
waͤrmeren
Himmel.

Wer auch niemals dieſe Nation geſehen, kann aus der zunehmenden
Feinheit derſelben, je waͤrmer das Clima iſt, von ſelbſt und gruͤndlich auf
die geiſtreiche Bildung derſelben ſchließen: die Neapolitaner ſind feiner und
ſchlauer noch, als die Roͤmer, und die Sicilianer mehr, als jene; die Grie-
chen aber uͤbertreffen ſelbſt die Sicilianer. Je reiner und duͤnner die Luft
iſt, ſagt Cicero 1), deſto feiner ſind die Koͤpfe.

Es findet ſich alſo die hohe Schoͤnheit, die nicht bloß in einer ſanften
Haut, in einer bluͤhenden Farbe, in leichtfertigen oder ſchmachtenden Au-
gen, ſondern in der Bildung und in der Form beſtehet, haͤufiger in Laͤn-
dern, die einen gleichguͤtigen Himmel genießen. Wenn alſo nur die Italie-
ner die Schoͤnheit malen und bilden koͤnnen, wie ein Engliſcher Scribent von
Stande ſaget, ſo lieget in den ſchoͤnen Bildungen des Landes ſelbſt zum Theil der
Grund zu dieſer Faͤhigkeit, welche durch eine anſchauliche taͤgliche Erkennt-
niß leichter erlanget werden kann. Unterdeſſen war die vollkommene

Schoͤn-
1) De nat. deor. L. 2. c. 16.
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[22/0072] I Theil. Erſtes Capitel. ſtimmte und unbedeutende Zuͤge des Geſichts, wie haͤufig jenſeits der Alpen, ſondern ſie ſind theils erhaben, theils geiſtreich, und die Form des Geſichts iſt mehrentheils groß und voͤllig, und die Theile derſelben in Uebereinſtim- mung. Dieſe vorzuͤgliche Bildung iſt ſo augenſcheinlich, daß der Kopf des geringſten Mannes unter dem Poͤbel in dem erhabenſten hiſtoriſchen Gemaͤl- de koͤnnte angebracht werden, und unter den Weibern dieſes Standes wuͤrde es nicht ſchwer ſeyn, auch an den geringſten Orten ein Bild zu einer Juno zu finden. Neapel, welches mehr, als andere Laͤnder von Italien, einen ſanf- ten Himmel, und eine gleichere und gemaͤßigtere Witterung genießet, weil es dem Himmelsſtriche, unter welchem das eigentliche Griechenland lieget, ſehr nahe iſt, hat haͤufig Formen und Bildungen, die zum Modell eines ſchoͤnen Ideals dienen koͤnnen, und welche in Abſicht der Form des Ge- ſichts, und ſonderlich der ſtark bezeichneten und harmoniſchen Theile deſſel- ben, gleichſam zur Bildhauerey erſchaffen zu ſeyn ſcheinen. Wer auch niemals dieſe Nation geſehen, kann aus der zunehmenden Feinheit derſelben, je waͤrmer das Clima iſt, von ſelbſt und gruͤndlich auf die geiſtreiche Bildung derſelben ſchließen: die Neapolitaner ſind feiner und ſchlauer noch, als die Roͤmer, und die Sicilianer mehr, als jene; die Grie- chen aber uͤbertreffen ſelbſt die Sicilianer. Je reiner und duͤnner die Luft iſt, ſagt Cicero 1), deſto feiner ſind die Koͤpfe. Es findet ſich alſo die hohe Schoͤnheit, die nicht bloß in einer ſanften Haut, in einer bluͤhenden Farbe, in leichtfertigen oder ſchmachtenden Au- gen, ſondern in der Bildung und in der Form beſtehet, haͤufiger in Laͤn- dern, die einen gleichguͤtigen Himmel genießen. Wenn alſo nur die Italie- ner die Schoͤnheit malen und bilden koͤnnen, wie ein Engliſcher Scribent von Stande ſaget, ſo lieget in den ſchoͤnen Bildungen des Landes ſelbſt zum Theil der Grund zu dieſer Faͤhigkeit, welche durch eine anſchauliche taͤgliche Erkennt- niß leichter erlanget werden kann. Unterdeſſen war die vollkommene Schoͤn- 1) De nat. deor. L. 2. c. 16.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/72>, abgerufen am 25.11.2024.