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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Erstes Capitel.
dern und verschiedenen Völkern in America Buchstaben mangeln, muß
dieses aus eben dem Grunde herrühren. Daher kommt es, daß alle Mitter-
nächtige Sprachen mehr einsylbige Worte haben, und mehr mit Consonan-
ten überladen sind, deren Verbindung und Aussprache andern Nationen
schwer, ja zum Theil unmöglich fällt. In dem verschiedenen Gewebe und
Bildung der Werkzeuge der Rede suchet ein berühmter Seribent 1) so gar
den Unterschied der Mundarten der Italienischen Sprache. Aus ange-
führtem Grunde, saget er, haben die Lombarder, welche in kältern Län-
dern von Italien gebohren sind, eine rauhe und abgekürzte Aussprache;
die Toscaner und Römer reden mit einem abgemessenern Tone; die Neapoli-
taner, welche einen noch wärmern Himmel genießen, lassen die Vocale
mehr als jene hören, und sprechen mit einem völligern Munde. Diejeuigen,
welche viel Nationen kennen lernen, unterscheiden dieselbe eben so rich-
tig und untrüglich aus der Bildung des Gesichts, als aus der Sprache.
Da nun der Mensch allezeit der vornehmste Vorwurf der Kunst und der
Künstler gewesen ist, so haben diese in jedem Lande ihren Figuren die Ge-
sichts-Bildung ihrer Nation gegeben; und daß die Kunst im Alterthume eine
Gestalt nach der Bildung der Menschen angenommen, beweiset ein gleiches
Verhältniß einer zu der andern in neuern Zeiten. Deutsche, Holländer
und Franzosen, wenn sie nicht aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen,
sind, wie die Sineser und Tatern, in ihren Gemählden kenntlich: Rubens
hat nach einem vieljährigen Aufenthalt in Italien seine Figuren beständig
gezeichnet, als wenn er niemals aus seinem Vaterlande gegangen wäre.

C.
Bildung der
Aegypter.

Die Bildung der heutigen Aegypter würde sich noch itzo in Figuren
ihrer ehemaligen Kunst zeigen: diese Aehnlichkeit aber zwischen der Natur
und ihrem Bilde ist nicht mehr eben dieselbe, welche sie war. Denn wenn
die mehresten Aegypter so dick und fett wären, als die 2) Einwohner von

Cairo
1) Gravina ragion poet. L. 2. p. 148.
2) Dapper Afriq. p. 94.

I Theil. Erſtes Capitel.
dern und verſchiedenen Voͤlkern in America Buchſtaben mangeln, muß
dieſes aus eben dem Grunde herruͤhren. Daher kommt es, daß alle Mitter-
naͤchtige Sprachen mehr einſylbige Worte haben, und mehr mit Conſonan-
ten uͤberladen ſind, deren Verbindung und Ausſprache andern Nationen
ſchwer, ja zum Theil unmoͤglich faͤllt. In dem verſchiedenen Gewebe und
Bildung der Werkzeuge der Rede ſuchet ein beruͤhmter Seribent 1) ſo gar
den Unterſchied der Mundarten der Italieniſchen Sprache. Aus ange-
fuͤhrtem Grunde, ſaget er, haben die Lombarder, welche in kaͤltern Laͤn-
dern von Italien gebohren ſind, eine rauhe und abgekuͤrzte Ausſprache;
die Toſcaner und Roͤmer reden mit einem abgemeſſenern Tone; die Neapoli-
taner, welche einen noch waͤrmern Himmel genießen, laſſen die Vocale
mehr als jene hoͤren, und ſprechen mit einem voͤlligern Munde. Diejeuigen,
welche viel Nationen kennen lernen, unterſcheiden dieſelbe eben ſo rich-
tig und untruͤglich aus der Bildung des Geſichts, als aus der Sprache.
Da nun der Menſch allezeit der vornehmſte Vorwurf der Kunſt und der
Kuͤnſtler geweſen iſt, ſo haben dieſe in jedem Lande ihren Figuren die Ge-
ſichts-Bildung ihrer Nation gegeben; und daß die Kunſt im Alterthume eine
Geſtalt nach der Bildung der Menſchen angenommen, beweiſet ein gleiches
Verhaͤltniß einer zu der andern in neuern Zeiten. Deutſche, Hollaͤnder
und Franzoſen, wenn ſie nicht aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen,
ſind, wie die Sineſer und Tatern, in ihren Gemaͤhlden kenntlich: Rubens
hat nach einem vieljaͤhrigen Aufenthalt in Italien ſeine Figuren beſtaͤndig
gezeichnet, als wenn er niemals aus ſeinem Vaterlande gegangen waͤre.

C.
Bildung der
Aegypter.

Die Bildung der heutigen Aegypter wuͤrde ſich noch itzo in Figuren
ihrer ehemaligen Kunſt zeigen: dieſe Aehnlichkeit aber zwiſchen der Natur
und ihrem Bilde iſt nicht mehr eben dieſelbe, welche ſie war. Denn wenn
die mehreſten Aegypter ſo dick und fett waͤren, als die 2) Einwohner von

Cairo
1) Gravina ragion poet. L. 2. p. 148.
2) Dapper Afriq. p. 94.
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[20/0070] I Theil. Erſtes Capitel. dern und verſchiedenen Voͤlkern in America Buchſtaben mangeln, muß dieſes aus eben dem Grunde herruͤhren. Daher kommt es, daß alle Mitter- naͤchtige Sprachen mehr einſylbige Worte haben, und mehr mit Conſonan- ten uͤberladen ſind, deren Verbindung und Ausſprache andern Nationen ſchwer, ja zum Theil unmoͤglich faͤllt. In dem verſchiedenen Gewebe und Bildung der Werkzeuge der Rede ſuchet ein beruͤhmter Seribent 1) ſo gar den Unterſchied der Mundarten der Italieniſchen Sprache. Aus ange- fuͤhrtem Grunde, ſaget er, haben die Lombarder, welche in kaͤltern Laͤn- dern von Italien gebohren ſind, eine rauhe und abgekuͤrzte Ausſprache; die Toſcaner und Roͤmer reden mit einem abgemeſſenern Tone; die Neapoli- taner, welche einen noch waͤrmern Himmel genießen, laſſen die Vocale mehr als jene hoͤren, und ſprechen mit einem voͤlligern Munde. Diejeuigen, welche viel Nationen kennen lernen, unterſcheiden dieſelbe eben ſo rich- tig und untruͤglich aus der Bildung des Geſichts, als aus der Sprache. Da nun der Menſch allezeit der vornehmſte Vorwurf der Kunſt und der Kuͤnſtler geweſen iſt, ſo haben dieſe in jedem Lande ihren Figuren die Ge- ſichts-Bildung ihrer Nation gegeben; und daß die Kunſt im Alterthume eine Geſtalt nach der Bildung der Menſchen angenommen, beweiſet ein gleiches Verhaͤltniß einer zu der andern in neuern Zeiten. Deutſche, Hollaͤnder und Franzoſen, wenn ſie nicht aus ihrem Lande und aus ihrer Natur gehen, ſind, wie die Sineſer und Tatern, in ihren Gemaͤhlden kenntlich: Rubens hat nach einem vieljaͤhrigen Aufenthalt in Italien ſeine Figuren beſtaͤndig gezeichnet, als wenn er niemals aus ſeinem Vaterlande gegangen waͤre. Die Bildung der heutigen Aegypter wuͤrde ſich noch itzo in Figuren ihrer ehemaligen Kunſt zeigen: dieſe Aehnlichkeit aber zwiſchen der Natur und ihrem Bilde iſt nicht mehr eben dieſelbe, welche ſie war. Denn wenn die mehreſten Aegypter ſo dick und fett waͤren, als die 2) Einwohner von Cairo 1) Gravina ragion poet. L. 2. p. 148. 2) Dapper Afriq. p. 94.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/70>, abgerufen am 22.11.2024.