Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Kunst unter den Griechen.
Stelle machen lassen, welcher, wie er saget, "nach der heutigen Kunst
gearbeitet war."
Man könnte diesen Stil den kleinlichen, oder den plat-
ten, nennen: denn was an den alten Figuren mächtig und erhaben war,
wurde itzo stumpf und niedrig gehalten. Es ist aber über diesen Stil nicht
aus Statuen zu urtheilen, die durch den Kopf ihre Benennung bekom-
men haben.

Da sich endlich die Kunst immer mehr zu ihrem Fall neigete, und daF.
Von der gro-
ßen Menge
Portraitköpfe
gegen wenig
Statuen aus
dieser Zeit.

auch, wegen der Menge alter Statuen, weniger, in Vergleichung der vori-
gen Zeit, gemachet wurden, so war der Künstler vornehmstes Werk, Köpfe
und Brustbilder, oder was man Portraits nennet, zu machen, und die
letzte Zeit bis auf den Untergang der Kunst hat sich vornehmlich hierinn
gezeiget. Daher muß es nicht so außerordentlich, wie es vielen vorkommt,
scheinen, erträgliche, ja zum Theil schöne Köpfe des Macrinus, des Septi-
mius Severus, und des Caracalla, wie der Farnesische ist, zu sehen: denn
der Werth desselben bestehet allein im Fleiße. Vielleicht hätte Lysippus den
Kopf des Caracalla nicht viel besser machen können; aber der Meister dessel-
ben konnte keine Figur, wie Lysippus, machen; dieses war der Unterschied.

Man glaubete eine besondere Kunst in starken hervorliegenden Adern,G.
Niedrige Be-
griffe der
Schönheit in
der letzten Zeit.

wider den Begriff der Alten, zu zeigen, und an dem Bogen Kaisers Septi-
mius hat man solche Adern auch an den Händen Weiblicher Idealischer
Figuren, wie die Victorien sind, welche Tropheen tragen, nicht wollen
mangeln lassen; als wenn die Stärke, welche vom Cicero als eine allge-
meine Eigenschaft vollkommener Hände angegeben wird, sich auch auf
Weibliche Hände erstreckte, und auf vorbesagte Weise müßte ausgedruckt
werden. An den Stücken der Colossalischen Statuen im Campidoglio,
welche von einem Apollo seyn sollen, sind die Adern oben ungemein sanft
angedeutet.

1)
Die
1) Acad. Quaest. L. 1. c. 5.
H h 2

Von der Kunſt unter den Griechen.
Stelle machen laſſen, welcher, wie er ſaget, „nach der heutigen Kunſt
gearbeitet war.„
Man koͤnnte dieſen Stil den kleinlichen, oder den plat-
ten, nennen: denn was an den alten Figuren maͤchtig und erhaben war,
wurde itzo ſtumpf und niedrig gehalten. Es iſt aber uͤber dieſen Stil nicht
aus Statuen zu urtheilen, die durch den Kopf ihre Benennung bekom-
men haben.

Da ſich endlich die Kunſt immer mehr zu ihrem Fall neigete, und daF.
Von der gro-
ßen Menge
Portraitkoͤpfe
gegen wenig
Statuen aus
dieſer Zeit.

auch, wegen der Menge alter Statuen, weniger, in Vergleichung der vori-
gen Zeit, gemachet wurden, ſo war der Kuͤnſtler vornehmſtes Werk, Koͤpfe
und Bruſtbilder, oder was man Portraits nennet, zu machen, und die
letzte Zeit bis auf den Untergang der Kunſt hat ſich vornehmlich hierinn
gezeiget. Daher muß es nicht ſo außerordentlich, wie es vielen vorkommt,
ſcheinen, ertraͤgliche, ja zum Theil ſchoͤne Koͤpfe des Macrinus, des Septi-
mius Severus, und des Caracalla, wie der Farneſiſche iſt, zu ſehen: denn
der Werth deſſelben beſtehet allein im Fleiße. Vielleicht haͤtte Lyſippus den
Kopf des Caracalla nicht viel beſſer machen koͤnnen; aber der Meiſter deſſel-
ben konnte keine Figur, wie Lyſippus, machen; dieſes war der Unterſchied.

Man glaubete eine beſondere Kunſt in ſtarken hervorliegenden Adern,G.
Niedrige Be-
griffe der
Schoͤnheit in
der letzten Zeit.

wider den Begriff der Alten, zu zeigen, und an dem Bogen Kaiſers Septi-
mius hat man ſolche Adern auch an den Haͤnden Weiblicher Idealiſcher
Figuren, wie die Victorien ſind, welche Tropheen tragen, nicht wollen
mangeln laſſen; als wenn die Staͤrke, welche vom Cicero als eine allge-
meine Eigenſchaft vollkommener Haͤnde angegeben wird, ſich auch auf
Weibliche Haͤnde erſtreckte, und auf vorbeſagte Weiſe muͤßte ausgedruckt
werden. An den Stuͤcken der Coloſſaliſchen Statuen im Campidoglio,
welche von einem Apollo ſeyn ſollen, ſind die Adern oben ungemein ſanft
angedeutet.

1)
Die
1) Acad. Quaeſt. L. 1. c. 5.
H h 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0293" n="243"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Kun&#x017F;t unter den Griechen.</hi></fw><lb/>
Stelle machen la&#x017F;&#x017F;en, welcher, wie er &#x017F;aget, <hi rendition="#fr">&#x201E;nach der heutigen Kun&#x017F;t<lb/>
gearbeitet war.&#x201E;</hi> Man ko&#x0364;nnte die&#x017F;en Stil den kleinlichen, oder den plat-<lb/>
ten, nennen: denn was an den alten Figuren ma&#x0364;chtig und erhaben war,<lb/>
wurde itzo &#x017F;tumpf und niedrig gehalten. Es i&#x017F;t aber u&#x0364;ber die&#x017F;en Stil nicht<lb/>
aus Statuen zu urtheilen, die durch den Kopf ihre Benennung bekom-<lb/>
men haben.</p><lb/>
              <p>Da &#x017F;ich endlich die Kun&#x017F;t immer mehr zu ihrem Fall neigete, und da<note place="right"><hi rendition="#aq">F.</hi><lb/>
Von der gro-<lb/>
ßen Menge<lb/>
Portraitko&#x0364;pfe<lb/>
gegen wenig<lb/>
Statuen aus<lb/>
die&#x017F;er Zeit.</note><lb/>
auch, wegen der Menge alter Statuen, weniger, in Vergleichung der vori-<lb/>
gen Zeit, gemachet wurden, &#x017F;o war der Ku&#x0364;n&#x017F;tler vornehm&#x017F;tes Werk, Ko&#x0364;pfe<lb/>
und Bru&#x017F;tbilder, oder was man Portraits nennet, zu machen, und die<lb/>
letzte Zeit bis auf den Untergang der Kun&#x017F;t hat &#x017F;ich vornehmlich hierinn<lb/>
gezeiget. Daher muß es nicht &#x017F;o außerordentlich, wie es vielen vorkommt,<lb/>
&#x017F;cheinen, ertra&#x0364;gliche, ja zum Theil &#x017F;cho&#x0364;ne Ko&#x0364;pfe des Macrinus, des Septi-<lb/>
mius Severus, und des Caracalla, wie der Farne&#x017F;i&#x017F;che i&#x017F;t, zu &#x017F;ehen: denn<lb/>
der Werth de&#x017F;&#x017F;elben be&#x017F;tehet allein im Fleiße. Vielleicht ha&#x0364;tte Ly&#x017F;ippus den<lb/>
Kopf des Caracalla nicht viel be&#x017F;&#x017F;er machen ko&#x0364;nnen; aber der Mei&#x017F;ter de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
ben konnte keine Figur, wie Ly&#x017F;ippus, machen; die&#x017F;es war der Unter&#x017F;chied.</p><lb/>
              <p>Man glaubete eine be&#x017F;ondere Kun&#x017F;t in &#x017F;tarken hervorliegenden Adern,<note place="right"><hi rendition="#aq">G.</hi><lb/>
Niedrige Be-<lb/>
griffe der<lb/>
Scho&#x0364;nheit in<lb/>
der letzten Zeit.</note><lb/>
wider den Begriff der Alten, zu zeigen, und an dem Bogen Kai&#x017F;ers Septi-<lb/>
mius hat man &#x017F;olche Adern auch an den Ha&#x0364;nden Weiblicher Ideali&#x017F;cher<lb/>
Figuren, wie die Victorien &#x017F;ind, welche Tropheen tragen, nicht wollen<lb/>
mangeln la&#x017F;&#x017F;en; als wenn die Sta&#x0364;rke, welche vom Cicero als eine allge-<lb/>
meine Eigen&#x017F;chaft vollkommener Ha&#x0364;nde angegeben wird, &#x017F;ich auch auf<lb/>
Weibliche Ha&#x0364;nde er&#x017F;treckte, und auf vorbe&#x017F;agte Wei&#x017F;e mu&#x0364;ßte ausgedruckt<lb/>
werden. An den Stu&#x0364;cken der Colo&#x017F;&#x017F;ali&#x017F;chen Statuen im Campidoglio,<lb/>
welche von einem Apollo &#x017F;eyn &#x017F;ollen, &#x017F;ind die Adern oben ungemein &#x017F;anft<lb/>
angedeutet.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">H h 2</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Die</fw><lb/>
              <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Acad. Quae&#x017F;t. L. 1. c.</hi> 5.</note><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[243/0293] Von der Kunſt unter den Griechen. Stelle machen laſſen, welcher, wie er ſaget, „nach der heutigen Kunſt gearbeitet war.„ Man koͤnnte dieſen Stil den kleinlichen, oder den plat- ten, nennen: denn was an den alten Figuren maͤchtig und erhaben war, wurde itzo ſtumpf und niedrig gehalten. Es iſt aber uͤber dieſen Stil nicht aus Statuen zu urtheilen, die durch den Kopf ihre Benennung bekom- men haben. Da ſich endlich die Kunſt immer mehr zu ihrem Fall neigete, und da auch, wegen der Menge alter Statuen, weniger, in Vergleichung der vori- gen Zeit, gemachet wurden, ſo war der Kuͤnſtler vornehmſtes Werk, Koͤpfe und Bruſtbilder, oder was man Portraits nennet, zu machen, und die letzte Zeit bis auf den Untergang der Kunſt hat ſich vornehmlich hierinn gezeiget. Daher muß es nicht ſo außerordentlich, wie es vielen vorkommt, ſcheinen, ertraͤgliche, ja zum Theil ſchoͤne Koͤpfe des Macrinus, des Septi- mius Severus, und des Caracalla, wie der Farneſiſche iſt, zu ſehen: denn der Werth deſſelben beſtehet allein im Fleiße. Vielleicht haͤtte Lyſippus den Kopf des Caracalla nicht viel beſſer machen koͤnnen; aber der Meiſter deſſel- ben konnte keine Figur, wie Lyſippus, machen; dieſes war der Unterſchied. F. Von der gro- ßen Menge Portraitkoͤpfe gegen wenig Statuen aus dieſer Zeit. Man glaubete eine beſondere Kunſt in ſtarken hervorliegenden Adern, wider den Begriff der Alten, zu zeigen, und an dem Bogen Kaiſers Septi- mius hat man ſolche Adern auch an den Haͤnden Weiblicher Idealiſcher Figuren, wie die Victorien ſind, welche Tropheen tragen, nicht wollen mangeln laſſen; als wenn die Staͤrke, welche vom Cicero als eine allge- meine Eigenſchaft vollkommener Haͤnde angegeben wird, ſich auch auf Weibliche Haͤnde erſtreckte, und auf vorbeſagte Weiſe muͤßte ausgedruckt werden. An den Stuͤcken der Coloſſaliſchen Statuen im Campidoglio, welche von einem Apollo ſeyn ſollen, ſind die Adern oben ungemein ſanft angedeutet. G. Niedrige Be- griffe der Schoͤnheit in der letzten Zeit. Die 1) 1) Acad. Quaeſt. L. 1. c. 5. H h 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/293
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/293>, abgerufen am 24.11.2024.