Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.I Theil. Viertes Capitel. testen Steine mit dem Namen des Künstlers. Die Liebe ist auf demsel-ben liegend mit aufgerichtetem Leibe als spielend vorgestellet, und mit gro- ßen Adlersflügeln, nach der Idea des hohen Alterthums fast an allen Göt- tern, nebst einer offenen Muschel von zwo Schalen. Die Künstler nach dem Phrygillus, wie Solon und Tryphon, haben der Liebe eine mehr kindische Natur und kürzere Flügel gegeben; und in dieser Gestalt, und nach Art Fiamingischer Kinder, sieht man die Liebe auf unzähligen geschnitte- nen Steinen. Eben so geformet sind die Kinder auf Herculanischen Gemäl- den, und sonderlich auf einem schwarzen Grunde von gleicher Größe mit den schönen tanzenden Weiblichen Figuren. Unter den schönsten Kindern von Marmor in Rom, welche die Liebe vorstellen, sind zwey im Hause Massini, einer im Pallaste Verospi, ein schlafender Cupido in der Villa Albani, nebst dem Kinde im Campidoglio, welches mit einem Schwan spielet 1); und diese allein können darthun, wie glücklich die alten Künstler in Nach- ahmung der kindlichen Natur gewesen. Es sind auch außerdem viele wahrhaftig schöne Kinderköpfe übrig. Das allerschönste Kind aber, wel- ches sich, wiewohl verstümmelt, aus dem Alterthume erhalten hat, ist ein kindlicher Satyr, ohngefähr von einem Jahre, in Lebensgröße, in der Villa Albani: es ist eine erhobene Arbeit, aber so, daß beynahe die ganze Figur freylieget. Dieses Kind ist mit Epheu bekränzet, und trinket, ver- muthlich aus einem Schlauche, welcher aber mangelt, mit solcher Begier- de und Wollust, daß die Augäpfel ganz aufwerts gedrehet sind, und nur eine Spur von dem tief gearbeiteten Sterne zu sehen ist. Dieses Stück wurde, nebst dem schönen Icarus, dem Dädalus die Flügel anleget, ebenfalls stark erhoben gearbeitet, an dem Fuße des Palatinischen Berges, auf der Seite des Circus Maximus, entdecket. Ein bekanntes Vorurtheil, wel- ches sich gleichsam, ich weis nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die alten Künstler in Bildung der Kinder, weit unter den neuern sind, würde also dadurch widerleget. Dieser 1) Mus. Capit. T. 3. tav. 64.
I Theil. Viertes Capitel. teſten Steine mit dem Namen des Kuͤnſtlers. Die Liebe iſt auf demſel-ben liegend mit aufgerichtetem Leibe als ſpielend vorgeſtellet, und mit gro- ßen Adlersfluͤgeln, nach der Idea des hohen Alterthums faſt an allen Goͤt- tern, nebſt einer offenen Muſchel von zwo Schalen. Die Kuͤnſtler nach dem Phrygillus, wie Solon und Tryphon, haben der Liebe eine mehr kindiſche Natur und kuͤrzere Fluͤgel gegeben; und in dieſer Geſtalt, und nach Art Fiamingiſcher Kinder, ſieht man die Liebe auf unzaͤhligen geſchnitte- nen Steinen. Eben ſo geformet ſind die Kinder auf Herculaniſchen Gemaͤl- den, und ſonderlich auf einem ſchwarzen Grunde von gleicher Groͤße mit den ſchoͤnen tanzenden Weiblichen Figuren. Unter den ſchoͤnſten Kindern von Marmor in Rom, welche die Liebe vorſtellen, ſind zwey im Hauſe Maſſini, einer im Pallaſte Veroſpi, ein ſchlafender Cupido in der Villa Albani, nebſt dem Kinde im Campidoglio, welches mit einem Schwan ſpielet 1); und dieſe allein koͤnnen darthun, wie gluͤcklich die alten Kuͤnſtler in Nach- ahmung der kindlichen Natur geweſen. Es ſind auch außerdem viele wahrhaftig ſchoͤne Kinderkoͤpfe uͤbrig. Das allerſchoͤnſte Kind aber, wel- ches ſich, wiewohl verſtuͤmmelt, aus dem Alterthume erhalten hat, iſt ein kindlicher Satyr, ohngefaͤhr von einem Jahre, in Lebensgroͤße, in der Villa Albani: es iſt eine erhobene Arbeit, aber ſo, daß beynahe die ganze Figur freylieget. Dieſes Kind iſt mit Epheu bekraͤnzet, und trinket, ver- muthlich aus einem Schlauche, welcher aber mangelt, mit ſolcher Begier- de und Wolluſt, daß die Augaͤpfel ganz aufwerts gedrehet ſind, und nur eine Spur von dem tief gearbeiteten Sterne zu ſehen iſt. Dieſes Stuͤck wurde, nebſt dem ſchoͤnen Icarus, dem Daͤdalus die Fluͤgel anleget, ebenfalls ſtark erhoben gearbeitet, an dem Fuße des Palatiniſchen Berges, auf der Seite des Circus Maximus, entdecket. Ein bekanntes Vorurtheil, wel- ches ſich gleichſam, ich weis nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die alten Kuͤnſtler in Bildung der Kinder, weit unter den neuern ſind, wuͤrde alſo dadurch widerleget. Dieſer 1) Muſ. Capit. T. 3. tav. 64.
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I Theil. Viertes Capitel.
teſten Steine mit dem Namen des Kuͤnſtlers. Die Liebe iſt auf demſel-
ben liegend mit aufgerichtetem Leibe als ſpielend vorgeſtellet, und mit gro-
ßen Adlersfluͤgeln, nach der Idea des hohen Alterthums faſt an allen Goͤt-
tern, nebſt einer offenen Muſchel von zwo Schalen. Die Kuͤnſtler nach
dem Phrygillus, wie Solon und Tryphon, haben der Liebe eine mehr
kindiſche Natur und kuͤrzere Fluͤgel gegeben; und in dieſer Geſtalt, und nach
Art Fiamingiſcher Kinder, ſieht man die Liebe auf unzaͤhligen geſchnitte-
nen Steinen. Eben ſo geformet ſind die Kinder auf Herculaniſchen Gemaͤl-
den, und ſonderlich auf einem ſchwarzen Grunde von gleicher Groͤße mit
den ſchoͤnen tanzenden Weiblichen Figuren. Unter den ſchoͤnſten Kindern von
Marmor in Rom, welche die Liebe vorſtellen, ſind zwey im Hauſe Maſſini,
einer im Pallaſte Veroſpi, ein ſchlafender Cupido in der Villa Albani,
nebſt dem Kinde im Campidoglio, welches mit einem Schwan ſpielet 1);
und dieſe allein koͤnnen darthun, wie gluͤcklich die alten Kuͤnſtler in Nach-
ahmung der kindlichen Natur geweſen. Es ſind auch außerdem viele
wahrhaftig ſchoͤne Kinderkoͤpfe uͤbrig. Das allerſchoͤnſte Kind aber, wel-
ches ſich, wiewohl verſtuͤmmelt, aus dem Alterthume erhalten hat, iſt
ein kindlicher Satyr, ohngefaͤhr von einem Jahre, in Lebensgroͤße, in der
Villa Albani: es iſt eine erhobene Arbeit, aber ſo, daß beynahe die ganze
Figur freylieget. Dieſes Kind iſt mit Epheu bekraͤnzet, und trinket, ver-
muthlich aus einem Schlauche, welcher aber mangelt, mit ſolcher Begier-
de und Wolluſt, daß die Augaͤpfel ganz aufwerts gedrehet ſind, und nur
eine Spur von dem tief gearbeiteten Sterne zu ſehen iſt. Dieſes Stuͤck
wurde, nebſt dem ſchoͤnen Icarus, dem Daͤdalus die Fluͤgel anleget, ebenfalls
ſtark erhoben gearbeitet, an dem Fuße des Palatiniſchen Berges, auf der
Seite des Circus Maximus, entdecket. Ein bekanntes Vorurtheil, wel-
ches ſich gleichſam, ich weis nicht wie, zur Wahrheit gemacht, daß die
alten Kuͤnſtler in Bildung der Kinder, weit unter den neuern ſind, wuͤrde alſo
dadurch widerleget.
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