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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
in der Proportion waren, und also das Maaß eines jeden Theils auf dessen
Punct werden gesetzt haben, so ist nicht unglaublich, daß dieser großen
Richtigkeit ein gewisser Grad schöner Form aufgeopfert worden. Es bil-
dete sich also in ihren Figuren die Großheit, welche aber in Vergleichung
gegen die wellenförmige Umrisse der Nachfolger dieser großen Meister eine
gewisse Härte kann gezeiget haben. Dieses scheinet die Härte zu seyn, welche
man am Callon und am Hegias, am Canachus und am Calamis 1), ja
selbst am Myron, auszusetzen fand 2); unter welchen gleichwohl Canachus
jünger war, als Phidias: denn er war des Polycletus Schüler 3), und
blühete in der fünf und neunzigsten Olympias.

Es wäre zu beweisen, daß die alten Scribenten sehr oft, wie die
neuern, von der Kunst geurtheilet, und die Sicherheit der Zeichnung, die
richtig und strenge angegebenen Figuren des Raphaels, haben vielen gegen
die Weichigkeit der Umrisse, und gegen die rundlich und sanft gehaltenen
Formen des Correggio, hart und steif geschienen; welcher Meynung
überhaupt Malvasia, ein Geschichtschreiber der Bolognesischen Maler,
ohne Geschmack, ist. Eben so wie unerleuchteten Sinnen der Homerische
Numerus, und die alte Majestät des Lucretius und Catullus, in Ver-
gleichung mit dem Glanze des Virgilius, und mit der süßen Lieblichkeit
des Ovidius, vernachläßiget und rauh klinget. Wenn hingegen des Lu-
cianus Urtheil in der Kunst gültig ist, so war die Statue der Amazone
Sosandra, von der Hand des Calamis, unter die vier vorzüglichsten Figu-
ren Weiblicher Schönheit zu setzen: denn zu Beschreibung seiner Schön-
heit nimmt er nicht allein den ganzen Anzug 4), sondern auch die züchtige
Mine, und ein behendes und verborgenes Lächeln von genannter Statue.
Unterdessen kann der Stil von einer Zeit in der Kunst so wenig, als in der

Art
1) Quintil. Inst. Orat. L. 12. c. 10. p. 1087.
2) Plin. L. 34. c. 19.
3) Pausan. L. 6. p. 483. l. 24.
4) Imag. p. 464.
Winckelm. Gesch. der Kunst. F f

Von der Kunſt unter den Griechen.
in der Proportion waren, und alſo das Maaß eines jeden Theils auf deſſen
Punct werden geſetzt haben, ſo iſt nicht unglaublich, daß dieſer großen
Richtigkeit ein gewiſſer Grad ſchoͤner Form aufgeopfert worden. Es bil-
dete ſich alſo in ihren Figuren die Großheit, welche aber in Vergleichung
gegen die wellenfoͤrmige Umriſſe der Nachfolger dieſer großen Meiſter eine
gewiſſe Haͤrte kann gezeiget haben. Dieſes ſcheinet die Haͤrte zu ſeyn, welche
man am Callon und am Hegias, am Canachus und am Calamis 1), ja
ſelbſt am Myron, auszuſetzen fand 2); unter welchen gleichwohl Canachus
juͤnger war, als Phidias: denn er war des Polycletus Schuͤler 3), und
bluͤhete in der fuͤnf und neunzigſten Olympias.

Es waͤre zu beweiſen, daß die alten Scribenten ſehr oft, wie die
neuern, von der Kunſt geurtheilet, und die Sicherheit der Zeichnung, die
richtig und ſtrenge angegebenen Figuren des Raphaels, haben vielen gegen
die Weichigkeit der Umriſſe, und gegen die rundlich und ſanft gehaltenen
Formen des Correggio, hart und ſteif geſchienen; welcher Meynung
uͤberhaupt Malvaſia, ein Geſchichtſchreiber der Bologneſiſchen Maler,
ohne Geſchmack, iſt. Eben ſo wie unerleuchteten Sinnen der Homeriſche
Numerus, und die alte Majeſtaͤt des Lucretius und Catullus, in Ver-
gleichung mit dem Glanze des Virgilius, und mit der ſuͤßen Lieblichkeit
des Ovidius, vernachlaͤßiget und rauh klinget. Wenn hingegen des Lu-
cianus Urtheil in der Kunſt guͤltig iſt, ſo war die Statue der Amazone
Soſandra, von der Hand des Calamis, unter die vier vorzuͤglichſten Figu-
ren Weiblicher Schoͤnheit zu ſetzen: denn zu Beſchreibung ſeiner Schoͤn-
heit nimmt er nicht allein den ganzen Anzug 4), ſondern auch die zuͤchtige
Mine, und ein behendes und verborgenes Laͤcheln von genannter Statue.
Unterdeſſen kann der Stil von einer Zeit in der Kunſt ſo wenig, als in der

Art
1) Quintil. Inſt. Orat. L. 12. c. 10. p. 1087.
2) Plin. L. 34. c. 19.
3) Pauſan. L. 6. p. 483. l. 24.
4) Imag. p. 464.
Winckelm. Geſch. der Kunſt. F f
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[225/0275] Von der Kunſt unter den Griechen. in der Proportion waren, und alſo das Maaß eines jeden Theils auf deſſen Punct werden geſetzt haben, ſo iſt nicht unglaublich, daß dieſer großen Richtigkeit ein gewiſſer Grad ſchoͤner Form aufgeopfert worden. Es bil- dete ſich alſo in ihren Figuren die Großheit, welche aber in Vergleichung gegen die wellenfoͤrmige Umriſſe der Nachfolger dieſer großen Meiſter eine gewiſſe Haͤrte kann gezeiget haben. Dieſes ſcheinet die Haͤrte zu ſeyn, welche man am Callon und am Hegias, am Canachus und am Calamis 1), ja ſelbſt am Myron, auszuſetzen fand 2); unter welchen gleichwohl Canachus juͤnger war, als Phidias: denn er war des Polycletus Schuͤler 3), und bluͤhete in der fuͤnf und neunzigſten Olympias. Es waͤre zu beweiſen, daß die alten Scribenten ſehr oft, wie die neuern, von der Kunſt geurtheilet, und die Sicherheit der Zeichnung, die richtig und ſtrenge angegebenen Figuren des Raphaels, haben vielen gegen die Weichigkeit der Umriſſe, und gegen die rundlich und ſanft gehaltenen Formen des Correggio, hart und ſteif geſchienen; welcher Meynung uͤberhaupt Malvaſia, ein Geſchichtſchreiber der Bologneſiſchen Maler, ohne Geſchmack, iſt. Eben ſo wie unerleuchteten Sinnen der Homeriſche Numerus, und die alte Majeſtaͤt des Lucretius und Catullus, in Ver- gleichung mit dem Glanze des Virgilius, und mit der ſuͤßen Lieblichkeit des Ovidius, vernachlaͤßiget und rauh klinget. Wenn hingegen des Lu- cianus Urtheil in der Kunſt guͤltig iſt, ſo war die Statue der Amazone Soſandra, von der Hand des Calamis, unter die vier vorzuͤglichſten Figu- ren Weiblicher Schoͤnheit zu ſetzen: denn zu Beſchreibung ſeiner Schoͤn- heit nimmt er nicht allein den ganzen Anzug 4), ſondern auch die zuͤchtige Mine, und ein behendes und verborgenes Laͤcheln von genannter Statue. Unterdeſſen kann der Stil von einer Zeit in der Kunſt ſo wenig, als in der Art 1) Quintil. Inſt. Orat. L. 12. c. 10. p. 1087. 2) Plin. L. 34. c. 19. 3) Pauſan. L. 6. p. 483. l. 24. 4) Imag. p. 464. Winckelm. Geſch. der Kunſt. F f

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/275>, abgerufen am 24.11.2024.