Endlich da die Zeiten der völligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie- chenland erschienen, wurde auch die Kunst freyer und erhabner. Der äl- A. Dessen Eigen- schaften.tere Stil war auf ein Systema gebauet, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren, und sich nachher von derselben entfernet hatten, und Idealisch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorschrift dieser Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn die Kunst hatte sich eine eigene Natur gebildet. Ueber dieses angenomme- ne Systema erhoben sich die Verbesserer der Kunst, und näherten sich der Wahrheit der Natur. Diese lehrete aus der Härte und von hervorsprin- genden und jäh abgeschnittenen Theilen der Figur in flüßige Umrisse zu gehen, die gewaltsamen Stellungen und Handlungen gesitteter und weiser zu machen, und sich weniger gelehrt, als schön, erhaben und groß zu zeigen. Durch diese Verbesserung der Kunst haben sich Phidias, Polycletus, Sco- pas, Alcamenes und Myron berühmt gemacht: der Stil derselben kann der Große genennet werden, weil außer der Schönheit die vornehmste Ab- sicht dieser Künstler scheinet die Großheit gewesen zu seyn. Hier ist in der Zeichnung das Harte von dem Scharfen wohl zu unterscheiden, damit man nicht z. E. die scharfgezogene Andeutung der Augenbranen, die man beständig in Bildungen der höchsten Schönheiten sieht, für eine unnatür- liche Härte nehme, welche aus dem ältern Stile geblieben sey: denn diese scharfe Bezeichnung hat ihren Grund in den Begriffen der Schönheit, wie oben bemerket worden.
Es ist aber wahrscheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten zu schließen, daß der Zeichnung dieses hohen Stils das Gerade einiger- maßen noch eigen geblieben, und daß die Umrisse dadurch in Winkel ge- gangen, welches durch das Wort viereckt oder eckigt1) scheinet ange- gedeutet zu werden. Denn da diese Meister, wie Polycletus, Gesetzgeber
in
1)Plin. L. 34. c. 19.
I Theil. Viertes Capitel.
II. Der hohe Stil.
Endlich da die Zeiten der voͤlligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie- chenland erſchienen, wurde auch die Kunſt freyer und erhabner. Der aͤl- A. Deſſen Eigen- ſchaften.tere Stil war auf ein Syſtema gebauet, welches aus Regeln beſtand, die von der Natur genommen waren, und ſich nachher von derſelben entfernet hatten, und Idealiſch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorſchrift dieſer Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn die Kunſt hatte ſich eine eigene Natur gebildet. Ueber dieſes angenomme- ne Syſtema erhoben ſich die Verbeſſerer der Kunſt, und naͤherten ſich der Wahrheit der Natur. Dieſe lehrete aus der Haͤrte und von hervorſprin- genden und jaͤh abgeſchnittenen Theilen der Figur in fluͤßige Umriſſe zu gehen, die gewaltſamen Stellungen und Handlungen geſitteter und weiſer zu machen, und ſich weniger gelehrt, als ſchoͤn, erhaben und groß zu zeigen. Durch dieſe Verbeſſerung der Kunſt haben ſich Phidias, Polycletus, Sco- pas, Alcamenes und Myron beruͤhmt gemacht: der Stil derſelben kann der Große genennet werden, weil außer der Schoͤnheit die vornehmſte Ab- ſicht dieſer Kuͤnſtler ſcheinet die Großheit geweſen zu ſeyn. Hier iſt in der Zeichnung das Harte von dem Scharfen wohl zu unterſcheiden, damit man nicht z. E. die ſcharfgezogene Andeutung der Augenbranen, die man beſtaͤndig in Bildungen der hoͤchſten Schoͤnheiten ſieht, fuͤr eine unnatuͤr- liche Haͤrte nehme, welche aus dem aͤltern Stile geblieben ſey: denn dieſe ſcharfe Bezeichnung hat ihren Grund in den Begriffen der Schoͤnheit, wie oben bemerket worden.
Es iſt aber wahrſcheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten zu ſchließen, daß der Zeichnung dieſes hohen Stils das Gerade einiger- maßen noch eigen geblieben, und daß die Umriſſe dadurch in Winkel ge- gangen, welches durch das Wort viereckt oder eckigt1) ſcheinet ange- gedeutet zu werden. Denn da dieſe Meiſter, wie Polycletus, Geſetzgeber
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1)Plin. L. 34. c. 19.
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I Theil. Viertes Capitel.
Endlich da die Zeiten der voͤlligen Erleuchtung und Freyheit iu Grie-
chenland erſchienen, wurde auch die Kunſt freyer und erhabner. Der aͤl-
tere Stil war auf ein Syſtema gebauet, welches aus Regeln beſtand, die
von der Natur genommen waren, und ſich nachher von derſelben entfernet
hatten, und Idealiſch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der
Vorſchrift dieſer Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war: denn
die Kunſt hatte ſich eine eigene Natur gebildet. Ueber dieſes angenomme-
ne Syſtema erhoben ſich die Verbeſſerer der Kunſt, und naͤherten ſich der
Wahrheit der Natur. Dieſe lehrete aus der Haͤrte und von hervorſprin-
genden und jaͤh abgeſchnittenen Theilen der Figur in fluͤßige Umriſſe zu
gehen, die gewaltſamen Stellungen und Handlungen geſitteter und weiſer
zu machen, und ſich weniger gelehrt, als ſchoͤn, erhaben und groß zu zeigen.
Durch dieſe Verbeſſerung der Kunſt haben ſich Phidias, Polycletus, Sco-
pas, Alcamenes und Myron beruͤhmt gemacht: der Stil derſelben kann
der Große genennet werden, weil außer der Schoͤnheit die vornehmſte Ab-
ſicht dieſer Kuͤnſtler ſcheinet die Großheit geweſen zu ſeyn. Hier iſt in der
Zeichnung das Harte von dem Scharfen wohl zu unterſcheiden, damit
man nicht z. E. die ſcharfgezogene Andeutung der Augenbranen, die man
beſtaͤndig in Bildungen der hoͤchſten Schoͤnheiten ſieht, fuͤr eine unnatuͤr-
liche Haͤrte nehme, welche aus dem aͤltern Stile geblieben ſey: denn dieſe
ſcharfe Bezeichnung hat ihren Grund in den Begriffen der Schoͤnheit, wie
oben bemerket worden.
A.
Deſſen Eigen-
ſchaften.
Es iſt aber wahrſcheinlich, und aus einigen Anzeigen der Scribenten
zu ſchließen, daß der Zeichnung dieſes hohen Stils das Gerade einiger-
maßen noch eigen geblieben, und daß die Umriſſe dadurch in Winkel ge-
gangen, welches durch das Wort viereckt oder eckigt 1) ſcheinet ange-
gedeutet zu werden. Denn da dieſe Meiſter, wie Polycletus, Geſetzgeber
in
1) Plin. L. 34. c. 19.
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/274>, abgerufen am 16.07.2024.
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