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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
rühmten Malers Timomachus war nicht im Schlachten der Widder vorge-
stellet, die er für Heerführer der Griechen ansah, sondern nach geschehe-
ner That 1), und da er zu sich selbst kam, und voller Verzweifelung und
niedergeschlagen sitzend, sein Vergehen überdachte; und so ist er auf dem
Trojanischen Marmor 2) im Campidoglio gebildet. Die Kinder der Me-
dea in dem Gemälde gedachten Künstlers lächelten unter dem Dolche ihrer
Mutter, deren Wuth mit Mitleiden über ihre Unschuld vermischet war.

Berühmte Männer und regierende Personen sind in einer würdigen
Fassung vorgestellet, und wie dieselben vor den Augen aller Welt erscheinen
würden; die Statuen Römischer Kaiserinnen gleichen Heldinnen, entfernt
von aller gekünstelten Artigkeit in Gebährden, Stande und Handlungen:
wir sehen in ihnen gleichsam die sichtliche Weisheit, welche Plato für kei-
nen Vorwurf der Sinne hält. So wie die zwo berühmten Schulen der
alten Weltweisen, in einem der Natur gemäßen Leben, die Stoiker in
dem Wohlstande, das höchste Gut setzeten, so war auch hier ihrer Künstler
Beobachtung auf die Wirkungen der sich selbst gelassenen Natur, und auf die
Wohlanständigkeit gerichtet.

Die Weisheit der alten Künstler im Ausdrucke zeiget sich in mehre-d Erinnerung
über den Aus-
druck neuerer
Künstler.

rem Lichte durch das Gegentheil in den Werken des größten Theils der
Künstler neuerer Zeiten, welche nicht viel mit wenigen, sondern wenig mit
viel angedeutet haben. Ihre Figuren sind in Handlungen, wie die Co-
mici auf den Schauplätzen der Alten, welche, um sich bey hellem Tage
auch dem geringsten vom Pöbel an dem äußersten Ende verständlich zu
machen, die Wahrheit über ihre Gränzen aufblähen müssen, und der Aus-
druck des Gesichts gleichet den Masken der Alten, die aus eben dem Grun-
de ungestaltet waren. Dieser übertriebene Ausdruck wird selbst in einer
Schrift, die in den Händen junger Anfänger in der Kunst ist, gelchret,

nemlich
1) Philostr. Vit. Apollon. L. 2. c. 10.
2) conf. Defcr. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 384.
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Von der Kunſt unter den Griechen.
ruͤhmten Malers Timomachus war nicht im Schlachten der Widder vorge-
ſtellet, die er fuͤr Heerfuͤhrer der Griechen anſah, ſondern nach geſchehe-
ner That 1), und da er zu ſich ſelbſt kam, und voller Verzweifelung und
niedergeſchlagen ſitzend, ſein Vergehen uͤberdachte; und ſo iſt er auf dem
Trojaniſchen Marmor 2) im Campidoglio gebildet. Die Kinder der Me-
dea in dem Gemaͤlde gedachten Kuͤnſtlers laͤchelten unter dem Dolche ihrer
Mutter, deren Wuth mit Mitleiden uͤber ihre Unſchuld vermiſchet war.

Beruͤhmte Maͤnner und regierende Perſonen ſind in einer wuͤrdigen
Faſſung vorgeſtellet, und wie dieſelben vor den Augen aller Welt erſcheinen
wuͤrden; die Statuen Roͤmiſcher Kaiſerinnen gleichen Heldinnen, entfernt
von aller gekuͤnſtelten Artigkeit in Gebaͤhrden, Stande und Handlungen:
wir ſehen in ihnen gleichſam die ſichtliche Weisheit, welche Plato fuͤr kei-
nen Vorwurf der Sinne haͤlt. So wie die zwo beruͤhmten Schulen der
alten Weltweiſen, in einem der Natur gemaͤßen Leben, die Stoiker in
dem Wohlſtande, das hoͤchſte Gut ſetzeten, ſo war auch hier ihrer Kuͤnſtler
Beobachtung auf die Wirkungen der ſich ſelbſt gelaſſenen Natur, und auf die
Wohlanſtaͤndigkeit gerichtet.

Die Weisheit der alten Kuͤnſtler im Ausdrucke zeiget ſich in mehre-δ Erinnerung
uͤber den Aus-
druck neuerer
Kuͤnſtler.

rem Lichte durch das Gegentheil in den Werken des groͤßten Theils der
Kuͤnſtler neuerer Zeiten, welche nicht viel mit wenigen, ſondern wenig mit
viel angedeutet haben. Ihre Figuren ſind in Handlungen, wie die Co-
mici auf den Schauplaͤtzen der Alten, welche, um ſich bey hellem Tage
auch dem geringſten vom Poͤbel an dem aͤußerſten Ende verſtaͤndlich zu
machen, die Wahrheit uͤber ihre Graͤnzen aufblaͤhen muͤſſen, und der Aus-
druck des Geſichts gleichet den Masken der Alten, die aus eben dem Grun-
de ungeſtaltet waren. Dieſer uͤbertriebene Ausdruck wird ſelbſt in einer
Schrift, die in den Haͤnden junger Anfaͤnger in der Kunſt iſt, gelchret,

nemlich
1) Philoſtr. Vit. Apollon. L. 2. c. 10.
2) conf. Defcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 384.
Y 2
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[171/0221] Von der Kunſt unter den Griechen. ruͤhmten Malers Timomachus war nicht im Schlachten der Widder vorge- ſtellet, die er fuͤr Heerfuͤhrer der Griechen anſah, ſondern nach geſchehe- ner That 1), und da er zu ſich ſelbſt kam, und voller Verzweifelung und niedergeſchlagen ſitzend, ſein Vergehen uͤberdachte; und ſo iſt er auf dem Trojaniſchen Marmor 2) im Campidoglio gebildet. Die Kinder der Me- dea in dem Gemaͤlde gedachten Kuͤnſtlers laͤchelten unter dem Dolche ihrer Mutter, deren Wuth mit Mitleiden uͤber ihre Unſchuld vermiſchet war. Beruͤhmte Maͤnner und regierende Perſonen ſind in einer wuͤrdigen Faſſung vorgeſtellet, und wie dieſelben vor den Augen aller Welt erſcheinen wuͤrden; die Statuen Roͤmiſcher Kaiſerinnen gleichen Heldinnen, entfernt von aller gekuͤnſtelten Artigkeit in Gebaͤhrden, Stande und Handlungen: wir ſehen in ihnen gleichſam die ſichtliche Weisheit, welche Plato fuͤr kei- nen Vorwurf der Sinne haͤlt. So wie die zwo beruͤhmten Schulen der alten Weltweiſen, in einem der Natur gemaͤßen Leben, die Stoiker in dem Wohlſtande, das hoͤchſte Gut ſetzeten, ſo war auch hier ihrer Kuͤnſtler Beobachtung auf die Wirkungen der ſich ſelbſt gelaſſenen Natur, und auf die Wohlanſtaͤndigkeit gerichtet. Die Weisheit der alten Kuͤnſtler im Ausdrucke zeiget ſich in mehre- rem Lichte durch das Gegentheil in den Werken des groͤßten Theils der Kuͤnſtler neuerer Zeiten, welche nicht viel mit wenigen, ſondern wenig mit viel angedeutet haben. Ihre Figuren ſind in Handlungen, wie die Co- mici auf den Schauplaͤtzen der Alten, welche, um ſich bey hellem Tage auch dem geringſten vom Poͤbel an dem aͤußerſten Ende verſtaͤndlich zu machen, die Wahrheit uͤber ihre Graͤnzen aufblaͤhen muͤſſen, und der Aus- druck des Geſichts gleichet den Masken der Alten, die aus eben dem Grun- de ungeſtaltet waren. Dieſer uͤbertriebene Ausdruck wird ſelbſt in einer Schrift, die in den Haͤnden junger Anfaͤnger in der Kunſt iſt, gelchret, nemlich δ Erinnerung uͤber den Aus- druck neuerer Kuͤnſtler. 1) Philoſtr. Vit. Apollon. L. 2. c. 10. 2) conf. Defcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 384. Y 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/221>, abgerufen am 24.11.2024.