men gebildet ist, wie die Einheit der Fläche des Meers, welche in einiger Weite eben und stille, wie ein Spiegel, erscheinet, ob es gleich allezeit in Be- wegung ist, und Wogen wälzet.
Da aber in dieser großen Einheit der jugendlichen Formen die Grän- zen derselben unmerklich eine in die andere fließen, und von vielen der ei- gentliche Punct der Höhe, und die Linie, welche dieselbe umschreibet, nicht genau kann bestimmet werden, so ist aus diesem Grunde die Zeichnung eines jugendlichen Körpers, in welchem alles ist und seyn, und nicht er- scheinet und erscheinen soll, schwerer, als einer Männlichen oder betagten Figur, weil in jener die Natur die Ausführung ihrer Bildung geendiget, folglich bestimmet hat, in dieser aber anfängt, ihr Gebäude wiederum auf- zulösen, und also in beyden die Verbindung der Theile deutlicher vor Au- gen lieget. Es ist auch kein so großer Fehler, in stark musculirten Körpern aus dem Umrisse heraus zu gehen, oder die Andeutung der Muskeln und anderer Theile zu verstärken, oder zu übertreiben, als es die geringste Ab- weichung in einem jugendlichen Gewächse ist, wo auch der geringste Schat- ten, wie man zu reden pfleget, zum Körper wird; und wer nur im ge- ringsten vor der Scheibe vorbey schießt, ist eben so gut, als wenn er nicht hinan getroffen hätte.
Diese Betrachtung kann unser Urtheil richtig und gründlich machen, und die Ungelehrten, welche nur insgemein in einer Figur, wo alle Mus- keln und Knochen angedeutet sind, die Kunst mehr, als in der Einfalt der Jugend, bewundern, besser unterrichten. Einen augenscheinlichen Beweis von dem, was ich sage, kann man in geschnittenen Steinen und deren Ab- drücken geben, in welchen sich zeiget, daß alte Köpfe viel genauer und besser, als junge schöne Köpfe, von neuern Künstlern nachgemacht sind: ein Kenner könnte vielleicht bey dem ersten Bilde anstehen, über das Alterthum eines betagten Kopfs in geschnittenen Steinen zu urtheilen; über einen
nach-
Winckelm. Gesch. der Kunst. U
Von der Kunſt unter den Griechen.
men gebildet iſt, wie die Einheit der Flaͤche des Meers, welche in einiger Weite eben und ſtille, wie ein Spiegel, erſcheinet, ob es gleich allezeit in Be- wegung iſt, und Wogen waͤlzet.
Da aber in dieſer großen Einheit der jugendlichen Formen die Graͤn- zen derſelben unmerklich eine in die andere fließen, und von vielen der ei- gentliche Punct der Hoͤhe, und die Linie, welche dieſelbe umſchreibet, nicht genau kann beſtimmet werden, ſo iſt aus dieſem Grunde die Zeichnung eines jugendlichen Koͤrpers, in welchem alles iſt und ſeyn, und nicht er- ſcheinet und erſcheinen ſoll, ſchwerer, als einer Maͤnnlichen oder betagten Figur, weil in jener die Natur die Ausfuͤhrung ihrer Bildung geendiget, folglich beſtimmet hat, in dieſer aber anfaͤngt, ihr Gebaͤude wiederum auf- zuloͤſen, und alſo in beyden die Verbindung der Theile deutlicher vor Au- gen lieget. Es iſt auch kein ſo großer Fehler, in ſtark muſculirten Koͤrpern aus dem Umriſſe heraus zu gehen, oder die Andeutung der Muskeln und anderer Theile zu verſtaͤrken, oder zu uͤbertreiben, als es die geringſte Ab- weichung in einem jugendlichen Gewaͤchſe iſt, wo auch der geringſte Schat- ten, wie man zu reden pfleget, zum Koͤrper wird; und wer nur im ge- ringſten vor der Scheibe vorbey ſchießt, iſt eben ſo gut, als wenn er nicht hinan getroffen haͤtte.
Dieſe Betrachtung kann unſer Urtheil richtig und gruͤndlich machen, und die Ungelehrten, welche nur insgemein in einer Figur, wo alle Mus- keln und Knochen angedeutet ſind, die Kunſt mehr, als in der Einfalt der Jugend, bewundern, beſſer unterrichten. Einen augenſcheinlichen Beweis von dem, was ich ſage, kann man in geſchnittenen Steinen und deren Ab- druͤcken geben, in welchen ſich zeiget, daß alte Koͤpfe viel genauer und beſſer, als junge ſchoͤne Koͤpfe, von neuern Kuͤnſtlern nachgemacht ſind: ein Kenner koͤnnte vielleicht bey dem erſten Bilde anſtehen, uͤber das Alterthum eines betagten Kopfs in geſchnittenen Steinen zu urtheilen; uͤber einen
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Winckelm. Geſch. der Kunſt. U
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Von der Kunſt unter den Griechen.
men gebildet iſt, wie die Einheit der Flaͤche des Meers, welche in einiger
Weite eben und ſtille, wie ein Spiegel, erſcheinet, ob es gleich allezeit in Be-
wegung iſt, und Wogen waͤlzet.
Da aber in dieſer großen Einheit der jugendlichen Formen die Graͤn-
zen derſelben unmerklich eine in die andere fließen, und von vielen der ei-
gentliche Punct der Hoͤhe, und die Linie, welche dieſelbe umſchreibet, nicht
genau kann beſtimmet werden, ſo iſt aus dieſem Grunde die Zeichnung
eines jugendlichen Koͤrpers, in welchem alles iſt und ſeyn, und nicht er-
ſcheinet und erſcheinen ſoll, ſchwerer, als einer Maͤnnlichen oder betagten
Figur, weil in jener die Natur die Ausfuͤhrung ihrer Bildung geendiget,
folglich beſtimmet hat, in dieſer aber anfaͤngt, ihr Gebaͤude wiederum auf-
zuloͤſen, und alſo in beyden die Verbindung der Theile deutlicher vor Au-
gen lieget. Es iſt auch kein ſo großer Fehler, in ſtark muſculirten Koͤrpern
aus dem Umriſſe heraus zu gehen, oder die Andeutung der Muskeln und
anderer Theile zu verſtaͤrken, oder zu uͤbertreiben, als es die geringſte Ab-
weichung in einem jugendlichen Gewaͤchſe iſt, wo auch der geringſte Schat-
ten, wie man zu reden pfleget, zum Koͤrper wird; und wer nur im ge-
ringſten vor der Scheibe vorbey ſchießt, iſt eben ſo gut, als wenn er nicht
hinan getroffen haͤtte.
Dieſe Betrachtung kann unſer Urtheil richtig und gruͤndlich machen,
und die Ungelehrten, welche nur insgemein in einer Figur, wo alle Mus-
keln und Knochen angedeutet ſind, die Kunſt mehr, als in der Einfalt der
Jugend, bewundern, beſſer unterrichten. Einen augenſcheinlichen Beweis
von dem, was ich ſage, kann man in geſchnittenen Steinen und deren Ab-
druͤcken geben, in welchen ſich zeiget, daß alte Koͤpfe viel genauer und
beſſer, als junge ſchoͤne Koͤpfe, von neuern Kuͤnſtlern nachgemacht ſind: ein
Kenner koͤnnte vielleicht bey dem erſten Bilde anſtehen, uͤber das Alterthum
eines betagten Kopfs in geſchnittenen Steinen zu urtheilen; uͤber einen
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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/203>, abgerufen am 16.07.2024.
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