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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
reife Gewächse von aller Art hervorbringet. Denn eine Blume verwelket
in unleidlicher Hitze, und in einem Gewölbe ohne Sonne bleibet sie ohne
Farbe; ja die Pflanzen arten aus in einem verschlossenen finstern Orte.
Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ih-
rem Mittelpunct gehet, unter einem gemäßigten Himmel, wie im ersten
Capitel angezeiget worden. Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe
von der Schönheit, welche von der regelmäßigsten Bildung genommen
sind, richtiger, als welche sich Völker bilden können, die, um mich eines
Gedankens eines neuern Dichters zu bedienen, von dem Ebenbilde ihres
Schöpfers halb verstellet sind. In diesen Begriffen aber sind wir selbst
verschieden, und vielleicht verschiedener, als selbst im Geschmacke und Ge-
ruche, wo es uns an deutlichen Begriffen fehlet, und es werden nicht
leicht hundert Menschen über alle Theile der Schönheit eines Gesichts ein-
stimmig seyn. Der schönste Mensch, welchen ich in Italien gesehen, war
es nicht in aller Augen, auch derjenigen nicht, die sich rühmeten, auch auf
die Schönheit unsers Geschlechts aufmerksam zu seyn; und diejenigen hin-
gegen, welche die Schönheit in den vollkommenen Bildern der Alten un-
tersuchet haben, finden in den Weblichen Schönheiten einer stolzen und
klugen Nation, die insgemein so sehr gepriesene Vorzüge nicht, weil sie
nicht von der weißen Haut geblendet werden./ Die Schönheit wird durch
den Sinn empfunden, aber durch den Verstand erkannt und begriffen,
wodurch jener mehrentheils weniger empfindlicher auf alles, aber richtiger
gemacht wird und werden soll. In der allgemeinen Form aber sind be-
ständig die mehresten und die gesittetesten Völker in Europa so wohl, als
in Asien und Africa, übereingekommen; daher die Begriffe derselben nicht
für willkührlich angenommen zu halten sind, ob wir gleich nicht von allen
Grund angeben können.

Die Farbe trägt zur Schönheit bey, aber sie ist nicht die Schönheit
selbst, sondern sie erhebet dieselbe überhaupt und ihre Formen. Da nun

die
T 2

Von der Kunſt unter den Griechen.
reife Gewaͤchſe von aller Art hervorbringet. Denn eine Blume verwelket
in unleidlicher Hitze, und in einem Gewoͤlbe ohne Sonne bleibet ſie ohne
Farbe; ja die Pflanzen arten aus in einem verſchloſſenen finſtern Orte.
Regelmaͤßiger aber bildet die Natur, je naͤher ſie nach und nach wie zu ih-
rem Mittelpunct gehet, unter einem gemaͤßigten Himmel, wie im erſten
Capitel angezeiget worden. Folglich ſind unſere und der Griechen Begriffe
von der Schoͤnheit, welche von der regelmaͤßigſten Bildung genommen
ſind, richtiger, als welche ſich Voͤlker bilden koͤnnen, die, um mich eines
Gedankens eines neuern Dichters zu bedienen, von dem Ebenbilde ihres
Schoͤpfers halb verſtellet ſind. In dieſen Begriffen aber ſind wir ſelbſt
verſchieden, und vielleicht verſchiedener, als ſelbſt im Geſchmacke und Ge-
ruche, wo es uns an deutlichen Begriffen fehlet, und es werden nicht
leicht hundert Menſchen uͤber alle Theile der Schoͤnheit eines Geſichts ein-
ſtimmig ſeyn. Der ſchoͤnſte Menſch, welchen ich in Italien geſehen, war
es nicht in aller Augen, auch derjenigen nicht, die ſich ruͤhmeten, auch auf
die Schoͤnheit unſers Geſchlechts aufmerkſam zu ſeyn; und diejenigen hin-
gegen, welche die Schoͤnheit in den vollkommenen Bildern der Alten un-
terſuchet haben, finden in den Weblichen Schoͤnheiten einer ſtolzen und
klugen Nation, die insgemein ſo ſehr geprieſene Vorzuͤge nicht, weil ſie
nicht von der weißen Haut geblendet werden./ Die Schoͤnheit wird durch
den Sinn empfunden, aber durch den Verſtand erkannt und begriffen,
wodurch jener mehrentheils weniger empfindlicher auf alles, aber richtiger
gemacht wird und werden ſoll. In der allgemeinen Form aber ſind be-
ſtaͤndig die mehreſten und die geſitteteſten Voͤlker in Europa ſo wohl, als
in Aſien und Africa, uͤbereingekommen; daher die Begriffe derſelben nicht
fuͤr willkuͤhrlich angenommen zu halten ſind, ob wir gleich nicht von allen
Grund angeben koͤnnen.

Die Farbe traͤgt zur Schoͤnheit bey, aber ſie iſt nicht die Schoͤnheit
ſelbſt, ſondern ſie erhebet dieſelbe uͤberhaupt und ihre Formen. Da nun

die
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[147/0197] Von der Kunſt unter den Griechen. reife Gewaͤchſe von aller Art hervorbringet. Denn eine Blume verwelket in unleidlicher Hitze, und in einem Gewoͤlbe ohne Sonne bleibet ſie ohne Farbe; ja die Pflanzen arten aus in einem verſchloſſenen finſtern Orte. Regelmaͤßiger aber bildet die Natur, je naͤher ſie nach und nach wie zu ih- rem Mittelpunct gehet, unter einem gemaͤßigten Himmel, wie im erſten Capitel angezeiget worden. Folglich ſind unſere und der Griechen Begriffe von der Schoͤnheit, welche von der regelmaͤßigſten Bildung genommen ſind, richtiger, als welche ſich Voͤlker bilden koͤnnen, die, um mich eines Gedankens eines neuern Dichters zu bedienen, von dem Ebenbilde ihres Schoͤpfers halb verſtellet ſind. In dieſen Begriffen aber ſind wir ſelbſt verſchieden, und vielleicht verſchiedener, als ſelbſt im Geſchmacke und Ge- ruche, wo es uns an deutlichen Begriffen fehlet, und es werden nicht leicht hundert Menſchen uͤber alle Theile der Schoͤnheit eines Geſichts ein- ſtimmig ſeyn. Der ſchoͤnſte Menſch, welchen ich in Italien geſehen, war es nicht in aller Augen, auch derjenigen nicht, die ſich ruͤhmeten, auch auf die Schoͤnheit unſers Geſchlechts aufmerkſam zu ſeyn; und diejenigen hin- gegen, welche die Schoͤnheit in den vollkommenen Bildern der Alten un- terſuchet haben, finden in den Weblichen Schoͤnheiten einer ſtolzen und klugen Nation, die insgemein ſo ſehr geprieſene Vorzuͤge nicht, weil ſie nicht von der weißen Haut geblendet werden./ Die Schoͤnheit wird durch den Sinn empfunden, aber durch den Verſtand erkannt und begriffen, wodurch jener mehrentheils weniger empfindlicher auf alles, aber richtiger gemacht wird und werden ſoll. In der allgemeinen Form aber ſind be- ſtaͤndig die mehreſten und die geſitteteſten Voͤlker in Europa ſo wohl, als in Aſien und Africa, uͤbereingekommen; daher die Begriffe derſelben nicht fuͤr willkuͤhrlich angenommen zu halten ſind, ob wir gleich nicht von allen Grund angeben koͤnnen. Die Farbe traͤgt zur Schoͤnheit bey, aber ſie iſt nicht die Schoͤnheit ſelbſt, ſondern ſie erhebet dieſelbe uͤberhaupt und ihre Formen. Da nun die T 2

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/197>, abgerufen am 22.11.2024.